Angriffe auf Synagogen, Kirchen und Polizeipatrouillen haben zum ausgedehntesten Anti-Terror-Einsatz im Nordkaukasus seit langem geführt. Sie zeigen Russlands Verletzlichkeit für islamistischen Terrorismus.

Die russische Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus hat am Sonntag die schwersten Terroranschläge seit zehn Jahren erlebt. Praktisch synchron griffen islamistische Terroristen in der Regionalhauptstadt Machatschkala und in der Hafenstadt Derbent am frühen Sonntagabend Synagogen, orthodoxe Kirchen und Polizeipatrouillen an. Die Synagogen und eine Kirche wurden in Brand gesteckt. Stundenlange Feuergefechte zwischen Sicherheitskräften und Angreifern zogen sich bis tief in die Nacht hinein.

Fünfzehn Polizisten, vier Zivilisten – unter ihnen der Priester der Kirche in Derbent – sowie mindestens sechs Terroristen kamen dabei ums Leben. Auch im Dorf Sergokala im Hinterland Dagestans wurden Sicherheitskräfte angegriffen. Später stellte sich heraus, dass drei der getöteten Angreifer aus dem Dorf stammen und Söhne bzw. Neffen des Gemeindeoberhaupts sind. Der Anti-Terror-Einsatz wurde am Montagmorgen offiziell beendet.

Erinnerung an Crocus City Hall

Noch wird über die Hintergründe und die Urheber des Gewaltausbruchs ermittelt. Aber die Anschläge haben in Russland ein grosses Echo ausgelöst. Zum einen erinnerten sie erneut daran, wie verwundbar und offenbar attraktiv Russland für islamistische Terroristen ist. Der Terroranschlag auf die Crocus City Hall in Moskau von Ende März ist zwar in der russischen Öffentlichkeit bereits wieder weitgehend verdrängt und vergessen. Die Ereignisse in Dagestan haben die Schrecken wieder nach oben gespült. Erst am Sonntag davor war ein Gefangenenaufstand im Untersuchungsgefängnis der südrussischen Stadt Rostow am Don von islamistischen Gefangenen angezettelt worden.

Zum andern haben die Ereignisse die Illusion definitiv zerstört, dass die Region, die zwei Jahrzehnte lang von Gewalt, Gegengewalt und religiösem Radikalismus heimgesucht worden war, mittlerweile in relativ stabilem Fahrwasser vorankommt. Dagestan eilt der Ruf des Unruheherds und der islamischen Radikalisierung voraus. Die Teilrepublik ist ein Vielvölkerstaat für sich, in dem sich seit den neunziger Jahren, wie auch in den umliegenden nordkaukasischen Teilrepubliken und ganz besonders in Tschetschenien, der radikale Islam breit machte. Hier kämpfte im 19. Jahrhundert mehrere Jahrzehnte lang unter der Führung des legendären Imam Schamil eine Widerstandstruppe gegen die Unterwerfung unter die Russen.

Bis vor fünf bis zehn Jahren hatten Berichte von islamistischen Angriffen und von «antiterroristischen Aktionen» mit oft ebenfalls unzimperlich vielen Todesopfern aus Dagestan und den umliegenden nordkaukasischen Teilrepubliken zum Alltag gehört. Vor fünfzehn Jahren hatte aber die Zentralregierung in Moskau angefangen, mit neuen politischen Ansätzen den Nährboden für die Gewalt auszutrocknen und der Region nicht nur mit Repression zu begegnen, sondern auch zu sozioökonomischer Entwicklung zu verhelfen.

Oft ging dabei vergessen, dass zu der Unzufriedenheit der jüngeren Generationen nicht nur das Gefühl beitrug, wirtschaftlich abgehängt zu sein, sondern auch der Mangel an Vertrauen in die politischen Akteure und Institutionen. Trotzdem schien es, als kehre mehr Ruhe und Stabilität ein. Auch das besonders drastische Wüten der Pandemie in Dagestan und der Unmut über Rekrutierungen für den Krieg gegen die Ukraine brachten oberflächlich die Teilrepublik nicht aus dem Gleichgewicht. Ein unterschätztes Signal waren der Sturm des Flughafens von Machatschkala und die pogromartigen Ausschreitungen im vergangenen Oktober, nachdem Flugzeuge aus Israel gelandet waren.

Schuldzuweisung an die Ukraine und den Westen

Der Eindruck der Stabilität trog. Allerdings waren viele der ersten politischen Reaktionen ähnlich wie nach dem Crocus-Terroranschlag: Mit dem Finger wurde sofort auf die Ukraine, ihren Geheimdienst und die als Drahtzieher hinter deren Aktionen vermuteten Amerikaner gezeigt. Das Oberhaupt Dagestans, Sergei Melikow, sagte noch in der Nacht auf Montag, hinter den Anschlägen von Machatschkala und Derbent stünden die gleichen Kräfte wie hinter dem Krieg in der Ukraine.

Diese wohlfeile Theorie wurde mit dem Beschuss der Stadt Sewastopol auf der Krim mit Atacms-Raketen verbunden, in dessen Folge am Sonntag Zivilisten, auch Kinder, am Strand ums Leben kamen oder verletzt wurden. Dass der Westen mithilfe alles Bösen auf der Welt Russland schaden und es von innen aufwiegeln wolle, ist keine neue Unterstellung. Präsident Wladimir Putin sieht in den Tschetschenien-Kriegen der Neunziger und frühen Zweitausender Jahre, die Moskau unerbittlich führte, ebenfalls ein Werk westlicher Aufwiegelung. Überhaupt ist es in Russland beliebt, vorwiegend auswärtige Kräfte für innenpolitische Probleme verantwortlich zu machen – was unweigerlich Fragezeichen hinter die Potenz des russischen Staates setzt.

Auf Telegram – einer der wenigen Orte, wo sich so etwas wie «Öffentlichkeit» in Russland noch bemerkbar macht – stiess die reflexartige Beschuldigung des Westens allerdings auch in dafür unverdächtigen, weil eher antiwestlich ausgerichteten Kanälen auf Widerspruch. Es sei gefährlich, für alles auf den Westen zu schielen und alle Ereignisse durch das Prisma des Ukraine-Krieges zu betrachten, schrieben Kommentatoren, unter anderem auch der nationalistische Politiker und frühere russische Botschafter bei der Nato, Dmitri Rogosin. Sie wenden sich damit indirekt auch gegen Putins Aussage vom April nach dem Anschlag von Moskau, wonach Russland wegen seiner ausgewogenen, «antikolonialistischen» Politik gar kein Ziel für Islamisten sein könne.

Der besonnene Nordkaukasus-Experte Sergei Markedonow meinte, die Anschläge zeigten, dass auch die Konfrontation mit dem Westen Russland nicht davon entbinde, sich mit dem radikalen Islam im eigenen Land zu befassen und die richtigen Schlüsse aus der Unzufriedenheit zu ziehen. Voreilige Schuldzuweisungen und Ablenkungsmanöver hält er für Selbstbetrug.

Warnung vor Vernachlässigung der Bedrohung

Die Ausbreitung des Islamismus sei schleichend erfolgt und von den Behörden vernachlässigt worden, wird bemängelt. Einer der getöteten Terroristen war als Kampfsportler bekannt, ein Umfeld, in dem sich islamistische Ideologie nach Ansicht von Kommentatoren verbreitet hat.

Während liberale Beobachter anprangern, dass Lokalpotentaten wie das Oberhaupt Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow, und deren Angehörige straffrei russische Gesetze, ja die Verfassung verletzen dürfen und so das Vertrauen in allgemeingültige Regeln zerstören, sehen nationalistische Kommentatoren Russland in Gefahr – durch zu viel Toleranz gegenüber nichtrussischen Völkern, ihren Bräuchen und generell dem Islam. Sie erkennen in den Anschlägen vom Sonntag nicht nur Antisemitismus und Islamismus, sondern auch «Antirussismus».

Der Grat ist sehr schmal: Russland ist ein Vielvölkerreich, zu dessen Identität seit Jahrhunderten auch der Islam gehört. Noch mehr als früher betont Putin die Bedeutung des multiethnischen Zusammenhalts angesichts der Bedrohung aus dem Westen. Zugleich wächst, nicht nur mit Blick auf den Nordkaukasus, sondern auch auf die Stadträume Moskaus, St. Petersburgs oder anderer Grossstädte, bei vielen Russen das Unbehagen über Muslime und ihre Lebensweise. Die Terroranschläge von Dagestan werden die Diskussionen darüber, wie weit der russische Staat offen sein soll für muslimische Migranten, wo die religiöse Radikalisierung beginnt und wie weit er im Kampf gegen diese gehen soll, neu befeuern.

Exit mobile version