Donnerstag, Dezember 26

Viele Attentäter im Westen verbindet das gleiche Motiv: Hass auf eine liberale Gesellschaft, deren Freizügigkeit sie nicht ertragen.

Die Bilder gleichen sich auf schreckliche Weise. Als der aus Saudiarabien stammende Taleb A. am Freitagabend mit einem Mietwagen über den Magdeburger Weihnachtsmarkt raste und möglichst viele Menschen umbringen wollte, folgte er einem leider allzu bekannten Muster. Weihnachtsmärkte sind jenseits religiöser Vorstellungen ein Ort der Geselligkeit und Ausgelassenheit. Als Manifestationen einer Gesellschaft, der die Freiräume des Feierns wichtig sind, stellen sie für die Feinde dieser Gesellschaft offenkundig eine unerträgliche Provokation dar.

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Am 22. August 2022 stürzte sich ein 24-jähriger Amerikaner libanesischer Herkunft mit einem Messer bewaffnet auf den Schriftsteller Salman Rushdie und verletzte ihn mit fünfzehn Messerstichen lebensgefährlich. Der Attentäter ertrug es nicht, dass sich Rushdie auch dreiunddreissig Jahre nach der gegen ihn verhängten Fatwa noch immer und immer sorgloser frei bewegen konnte. Der Mann war jünger als die Fatwa. Es hinderte ihn nicht, jenen umbringen zu wollen, der sich die Freuden der Freiheit nicht nehmen lassen wollte.

Im Oktober 2020 wurde der französische Lehrer Samuel Paty von einem 18-jährigen Islamisten tschetschenischer Herkunft auf offener Strasse in der Kleinstadt Conflans-Sainte-Honorine enthauptet. Sein Vergehen: Er hatte im Schulunterricht das Recht auf Meinungsfreiheit anhand von Mohammed-Karikaturen vorgeführt. In der Folge hetzten radikale Islamisten im Internet gegen ihn, bis der junge Mann zur mörderischen Tat schritt.

Gefährdete Errungenschaften

Die Aufzählung ähnlicher terroristischer Angriffe liesse sich beliebig verlängern. Stets reproduzieren sie ein vergleichbares Schema. Ein junger Mann radikalisiert sich in seinem Hass auf die westliche Gesellschaft und attackiert sie dort, wo sie ihm am unerträglichsten erscheint: in ihrem Gebrauch der Freiheitsrechte. Das ist umso grotesker, als diese Attentäter ihre Herkunftsländer auch darum verlassen haben, um im Westen Zuflucht und Freiheit zu finden.

Was Menschen aus totalitären Staaten dabei häufig nicht durchschauen: Die Freiheit kann mitunter eine fast unerträgliche Zumutung darstellen. Die Meinungsfreiheit deckt vieles, was für religiöse Menschen hart an die Schmerzgrenze geht. Die Fatwa eines muslimischen Religionsgelehrten hat keine Rechtskraft in demokratischen Gesellschaften. Und die Freiheit des Einzelnen gehört zu den höchsten und am besten geschützten Rechtsgütern im Westen. Wer sie einschränken will, hat hohe juristische Hürden zu überwinden.

Attentäter scheinen ein ausgeprägtes Sensorium für jene Bereiche zu entwickeln, in denen die demokratischen Gesellschaften am heftigsten getroffen werden können. Wenn Freiheitsrechte auch einen hohen juristischen Schutz geniessen, so kann man sie in der Wirklichkeit leicht und wirkungsvoll auf die Probe stellen. Denn die Gesellschaft ist gerade im Gebrauch ihrer Freiheit am verletzlichsten. Der Staat kann sie zwar im Grundsatz garantieren, er kann sie aber nicht umfassend schützen, ohne den gesellschaftlichen Grundkonsens auf ihre Unantastbarkeit zu tangieren. Wird er dazu gezwungen, steht er vor dem Paradox, die Freiheit einschränken zu müssen, um sie schützen zu können.

Darin liegt die grösste Herausforderung für die vom Terror betroffenen Gesellschaften. Weihnachtsmärkte können nicht in Hochsicherheitszonen verwandelt werden. Es kann nicht hinter jedem Bürger ein schwerbewaffneter Personenschützer stehen. Freiheit gibt es nur so lange, als sie auch die Freiheit vom Staat einschliesst. Das heisst nicht weniger als: Sie ruht auch in den Händen jedes Einzelnen und damit der Zivilgesellschaft.

Houellebecq warnte vor Bürgerkrieg

Wie teuer und einschneidend es sein kann, unter Extrembedingungen auf den Freiheitsrechten zu beharren, konnte man an Salman Rushdie studieren. Während vieler Jahre musste er im Verborgenen und unter dem permanenten Schutz von Leibwächtern leben. Er überstand die gefährlichsten Jahre, ein freies Leben war es indessen nicht mehr.

Das alles wissen Attentäter. Ihr Kalkül wird von der Vorstellung befeuert, liberale Gesellschaften seien ausgerechnet in jenen Grundsätzen am verwundbarsten, die für jeden Fundamentalisten die grösstmögliche Zumutung darstellen. In ihrem fanatischen Eifer möchten sie die verhassten Gesellschaften in jene Unfreiheit zwingen, der sie in ihren Herkunftsländern entflohen sind. Damit wäre das Gastland als ein Regime des Unrechts entlarvt und der Hass berechtigt.

Vor zwei Jahren hat der französische Schriftsteller Michel Houellebecq unter dem Eindruck islamistischer Gewalttaten in einem wütenden Rundumschlag vor einem Bürgerkrieg in Frankreich gewarnt. In einem Gespräch mit dem Philosophen Michel Onfray sagte er, man könne bereits sehen, wie die Franzosen sich bewaffneten und in den Schiessständen übten.

Dann machte er eine Aussage, die ihm eine Klage vonseiten des Rektors der Grossen Moschee in Paris, Chems-Eddine Hafiz, eintrug: «Wenn ganze Gebiete unter islamischer Kontrolle sind, dann wird es, so denke ich, zu Widerstandsakten kommen. Es wird Attentate und Schiessereien in Moscheen und in den von Muslimen besuchten Cafés geben.»

Die Beobachtung war angesichts der Gewaltbereitschaft beispielsweise in der Gelbwesten-Bewegung nicht ganz aus der Luft gegriffen. Und auch die Diagnose allein ist kein Aufruf zu antimuslimischen Terrorakten, wie Houellebecq vorgeworfen worden war. Dennoch war dieses zur Drohkulisse aufgerichtete prognostische Szenario ebenso dumm wie gefährlich.

Hätte tatsächlich die reale Möglichkeit einer solchen Eskalation bestanden, so wäre zwar ein warnender Hinweis darauf berechtigt gewesen. Zugleich hätte Houellebecq, wäre es ihm nicht nur um rhetorischen Krawall, sondern um eine ernsthafte Sorge für Frankreich gegangen, die Gefahren aufzeigen müssen, die von einem solchen Angriff auf das staatliche Gewaltmonopol ausgehen.

So wie es den Staat überfordern und das Prinzip Freiheit aushebeln würde, wenn er seine Bürger unter einen umfassenden Schutz stellen wollte, so gehört die bewaffnete Selbstverteidigung nicht zu den Aufgaben der Zivilgesellschaft. Dennoch ist sie darin gefordert, ihren Teil zum Schutz der freiheitlichen Verfasstheit des Staatswesens beizutragen.

Taleb A. drohte schon vor Jahren

Nach dem Anschlag in Magdeburg wird nun intensiv untersucht, ob die Sicherheitskräfte eine notwendige Vorsorge unterlassen haben und ob die staatlichen Institutionen frühe Anzeichen einer Radikalisierung des Attentäters ignoriert haben. Das ist wichtig und notwendig, weil daraus Schlüsse zu ziehen wären für die Prävention von weiteren Gewaltakten.

Ebenso hilfreich und sinnvoll wäre aber auch eine Selbsterforschung in der Zivilgesellschaft. Wo sind Auffälligkeiten sichtbar geworden in den knapp zwanzig Jahren, die Taleb A. in Deutschland gelebt hat? In der ersten Hälfte der 2010er Jahre hatte er in Stralsund die Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie absolviert. Offenbar soll es damals schon zu Auseinandersetzungen gekommen sein. Er überwarf sich mit der Ärztekammer wegen der Anerkennung von Prüfungsleistungen.

Ausserdem hat er gegenüber der dortigen Sozialbehörde, wie «Zeit online» berichtet, unter Drohungen die Auszahlung von Beihilfen zum Lebensunterhalt durchsetzen wollen. Und 2019 bekannte er in einem Interview mit der «FAZ», er sei «der aggressivste Kritiker des Islams in der Geschichte».

Das alles macht aus einem eher unauffälligen Bürger selbstverständlich noch keinen potenziellen Attentäter. Doch in seinem Umfeld wird es Leute gegeben haben, die seine allmähliche Radikalisierung bemerkt haben müssen. Im August dieses Jahres postete er auf X: «Wenn Deutschland Krieg will, werden wir ihn haben. Wenn Deutschland uns töten will, werden wir sie abschlachten, sterben oder mit Stolz ins Gefängnis gehen.» Taleb A. hatte den Eintrag auf Arabisch geschrieben. Jemand muss es trotzdem gesehen und gelesen haben.

Freunde oder Bekannte von Menschen, die in die Radikalisierung abdriften, können nicht die Aufgaben der Sicherheitsbehörden übernehmen. Sie sind nicht informelle Mitarbeiter des Staates. Aber es gehört im Alltag zur Zivilcourage, Personen anzusprechen, die man für gefährdet oder gefährlich hält. Man macht es zum Schutz dieser – wie auch immer – labilen Menschen, und man tut es im Interesse der Gesellschaft.

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