Montag, September 30

Nach bloss zehn Wochen im Amt schlägt sich der Labour-Premierminister Keir Starmer mit Affären und Protesten herum.

Vorwürfe der Vetternwirtschaft, Sex-Affären, Boris Johnsons Corona-Partys oder die luxuriöse Renovation seiner Dienstwohnung: Als Keir Starmer noch Oppositionsführer war, liess er keine Gelegenheit aus, um Konservativen moralische Korruption und mangelnde Integrität vorzuwerfen. Nun ist Starmer seit zweieinhalb Monaten selber Premierminister – und statt «Partygate» sorgt auf einmal «Frockgate» (Kleider-Gate) für Schlagzeilen.

Grund für die Aufregung sind repräsentative Kleider, die ein reicher Labour-Spender Starmers Gattin Victoria finanzierte und die der Premierminister zu spät deklarierte. Auch Starmer selber soll in den Genuss von Anzügen, einer Designer-Brille sowie Fussball- und Konzert-Tickets gekommen sein. Insgesamt soll sich der Wert der Geschenke auf rund 100 000 Pfund summieren. Das Boulevardblatt «Daily Star», das einst das Verfallsdatum von Liz Truss mit dem eines Kopfsalats verglich, bezeichnete den Premierminister als «König der Schmarotzer».

Mit harter Hand gegen Krawallmacher

Starmer hat keine Gesetze verletzt. Doch zeigt er wenig politisches Fingerspitzengefühl. Kritiker argumentieren, der Labour-Chef hätte voraussehen müssen, dass die moralische Nulltoleranz, die er gegenüber den Vorgängerregierungen walten liess, auf ihn zurückfallen würde.

So darf sich Keir Starmer zwar für seinen grossen Wahlerfolg vom Juli feiern lassen, wenn er am Sonntag zum Labour-Parteitag in Liverpool eintrifft. Doch hat er in bloss zehn Wochen im Amt mehr politischen Kredit verspielt, als den Labour-Sympathisanten lieb sein kann.

Begonnen hat Starmers Regierungszeit mit einer unerwarteten Herausforderung. In England und Nordirland kam es nach dem Mordanschlag auf Mädchen in einer Tanzschule zu ausländerfeindlichen Krawallen. Als ehemaliger Leiter der Generalstaatsanwaltschaft reagierte Starmer mit harter Hand auf die Unruhen. Die Krawallmacher bekamen die volle Wucht der britischen Strafjustiz zu spüren. Und Starmer fand mit seiner Law-and-Order-Politik im Volk Anklang.

Pragmatischer Technokrat

Insgesamt gibt sich Starmer nicht als Ideologe, sondern als Pragmatiker. In der Migrationspolitik hat er zwar kein Patentrezept gefunden. Doch versucht er die Probleme weder zu bewirtschaften, noch schreckt er davor zurück, sich vom Grenzschutz der italienischen Rechtsnationalistin Giorgia Meloni inspirieren zu lassen – trotz der Empörung des linken Parteiflügels.

In der Aussen- und Sicherheitspolitik justierte er den Kurs der konservativen Vorgängerregierung nur leicht. Der Entscheid, wegen des Risikos von Kriegsverbrechen in Gaza den Export einiger Waffen nach Israel zu verbieten, stiess zwar als politisches Signal auf Kritik, ändert aber in der Praxis wenig.

Gegenüber Russland gibt sich der Premierminister als Falke. Anders als der zaudernde amerikanische Präsident Joe Biden wäre Starmer bereit, den Ukrainern den Einsatz von westlichen Langstreckenraketen auf Ziele in Russland zu erlauben. Im Verhältnis zur der EU proklamierte er wortreich ein Tauwetter. Doch sind keine konkreten und substanziellen Änderungen am heutigen Brexit-Regime absehbar.

Klagen über das «schwarze Loch»

Umso heftiger greift Starmer die Konservativen auf dem Feld der Innenpolitik an. «Alles ist noch viel schlimmer als gedacht», sagte der Premierminister im August bei einer Rede im Garten seines Amtssitzes. Wegen der überfüllten Gefängnisse musste die Regierung Häftlinge vorzeitig auf freien Fuss setzen. Zudem klagte Starmer über ein «schwarzes Loch» von 22 Milliarden Pfund im Staatshaushalt, dessen wahres Ausmass die Konservativen verschleiert hätten.

Die Absicht ist offensichtlich: Den Wählerinnen und Wählern soll sich das Versagen der Konservativen langfristig ins Gedächtnis einbrennen. Zudem will Labour den Tories die politische Verantwortung für die Steuererhöhungen zuschieben, die Starmer der Bevölkerung bei der Präsentation des Haushaltsentwurfs Ende Oktober – entgegen seinen Wahlkampfversprechen – bescheren dürfte.

Damit versucht Labour, die Konservativen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Als Gordon Brown 2010 nach der Finanzkrise die Amtsgeschäfte an David Cameron übergab, hinterliess ein Labour-Minister seinen konservativen Nachfolgern im Finanzministerium einen Zettel mit den Worten «Es ist kein Geld mehr übrig». Jahrelang rieben die Tories Labour unter die Augen, sie hätten die Staatsfinanzen ruiniert und seien daher für die konservativen Sparmassnahmen verantwortlich.

Ob Starmers Kalkül aufgehen wird, bleibt abzuwarten. Das Loch im Haushalt ist zwar zu einem guten Teil die Folge der konservativen Hinterlassenschaft. Sie ist aber auch das Resultat von politischen Entscheidungen der Labour-Regierung, die sich beispielsweise mit den Gewerkschaften auf kostspieligen Lohnerhöhungen für die Assistenzärzte und das Bahnpersonal geeinigt hat.

Umstrittene Heiz-Subventionen

Dass die Wähler Labour bereits in der Verantwortung sehen, zeigt sich am bisher umstrittensten Entscheid Starmers: Der Streichung der Heiz-Zuschüsse für Rentner, die den Staatshaushalt um 1,3 Milliarden Pfund entlasten soll. Die Regierung will die Subventionen nicht mehr mit der Giesskanne ausschütten, sondern nur noch an jene Rentner vergeben, die wirklich bedürftig sind. Doch Pensionäre, die nur knapp über der Armutsgrenze leben, werden den Schritt spüren. Die Organisation Age UK schreibt, angesichts der hohen Energiekosten drohten im Winter zwei Millionen Senioren in finanzielle Schwierigkeiten zu geraten.

Starmer hat die Massnahme mit harter Hand gegen parteiinterne Widerstände durchgesetzt und damit Mut und Durchsetzungsfähigkeit bewiesen. Gleichzeitig wirkt sein Vorgehen taktisch ungeschickt. Anstatt den Schritt in einem Bündel von Sparmassnahmen für weitere Bevölkerungskreise zu verkünden, nahm die Regierung nur die Rentner ins Visier. Die konservative Opposition schlachtet deren Enttäuschung nun genüsslich aus. Die Boulevardpresse dürfte bereits Winter-Reportagen über frierende Senioren planen, die Starmer für ihre missliche Lage verantwortlich machen.

Die Kritik schlägt sich in den Meinungsumfragen nieder. 46 Prozent der Bevölkerung haben inzwischen eine negative Meinung von Starmer – das sind so viele wie seit 2021 nicht mehr. 29 Prozent würden bei einer Wahl Labour ihre Stimme gegeben, nachdem die Partei im Juli noch mit 35 Prozent der Stimmen fast zwei Drittel aller Unterhausmandate errungen hatte.

Noch gibt sich Starmer unbeeindruckt. Die Affären und die Kritik tut er als oberflächlichen Medienwirbel ab. Gegenüber der BBC erklärte er, er sei gewillt, unpopuläre Entscheidungen im langfristigen Landesinteresse zu treffen. Doch hat Starmer den Britinnen und Briten bisher bloss Entbehrungen angekündigt. Nun wird er sie rasch davon überzeugen müssen, dass er ihnen auch eine Zukunft mit Verbesserungen ihrer Lebensumstände bieten kann.

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