Die Rendite zehnjähriger US-Staatsanleihen ist auf über 4,65% gestiegen, während der Aktienmarkt nur unwesentlich korrigiert hat. Damit stellt sich eine Konstellation ein, die letztmals vor mehr als zwanzig Jahren zu beobachten war.
Die Rendite zehnjähriger Treasury Notes, der wichtigste Preis der Welt, ist auf über 4,65% gestiegen und liegt damit mehr als 85 Basispunkte über dem Niveau von Anfang Jahr.
Der Aktienmarkt hat diesen Zinsanstieg bislang erstaunlich gut verdaut. Der S&P 500 notiert gegenwärtig nur gut 3% unter seinem Ende März erreichten Allzeithoch. Damit ist der amerikanische Leitindex stattlich bewertet. Auf Basis der Gewinne der vergangenen zwölf Monate liegt sein Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) auf rund 24, auf Basis der geschätzten Unternehmensgewinne der kommenden zwölf Monate beträgt das KGV rund 21.
Diese Kombination aus höheren Bondrenditen und anspruchsvoller Bewertung hat an den Finanzmärkten zu einem Phänomen geführt, das letztmals vor mehr als zwanzig Jahren zu beobachten war. Die folgende Grafik veranschaulicht es:
Die blaue Kurve zeigt die Rendite zehnjähriger Treasury Notes. Im Oktober 2023 erreichte sie für kurze Zeit 5%, letztmals notierte sie davor im Februar 2007 – vor der globalen Finanzkrise – auf diesem Niveau. Die rote Kurve zeigt die Gewinnrendite (Earnings Yield) des S&P 500. Sie entspricht dem inversen KGV; je höher das KGV, desto niedriger die Gewinnrendite, und umgekehrt. Im vorliegenden Beispiel wurde das KGV auf Basis der Unternehmensgewinne der vergangenen zwölf Monate benutzt, was eine Gewinnrendite von 4,16% ergibt (100/24).
Ungewöhnlich ist an dieser Konstellation, dass die Treasury-Renditen (blau) derzeit über der Gewinnrendite des Aktienmarktes (rot) liegen. Die «risikofreie» Rendite zehnjähriger Treasuries liegt damit höher als die «riskante» Rendite des Aktienmarktes. Das war letztmals 2002 der Fall.
Gegen Ende der Neunzigerjahre war dieses Bild nahezu ein Dauerzustand: Damals begannen Marktstrategen vom «Fed-Modell» zu sprechen, um zu argumentieren, dass der Aktienmarkt gefährlich hoch bewertet war. Der damalige Vorsitzende der US-Notenbank, Alan Greenspan, suggerierte 1997 in einer Rede vor dem Kongress, der amerikanische Aktienmarkt sei hoch bewertet, weil die Bondrendite über der Gewinnrendite des S&P 500 lag.
Das «Fed-Modell» – es handelte sich dabei nie um ein offizielles, vom Fed benutztes Bewertungsmodell – wurde seither in diversen Studien widerlegt. Seine Vorhersagekraft für künftige Entwicklungen an den Börsen ist gleich Null. Zudem unterliegt es dem Irrtum, dass die Bewertung einer nominalen Anlage (Bonds) mit der einer realen Anlage (Aktien) verglichen wird.
Aus der blossen Tatsache, dass die Rendite zehnjähriger Treasuries gegenwärtig höher liegt als die Gewinnrendite des S&P 500, sollte also keinesfalls die These abgeleitet werden, dass dem Aktienmarkt unmittelbar ein Absturz droht.
Trotzdem: Je höher die Renditen am Bondmarkt steigen, desto attraktiver erscheinen, zumindest in der kurzen Frist, Bonds im Vergleich zu Aktien. Sollten sich in der laufenden Saison der Quartalsabschlüsse zudem die Enttäuschungen häufen – gestern Mittwoch haben beispielsweise Meta Platforms und IBM nicht überzeugt –, dann stehen den Börsen einige Turbulenzen bevor.