Samstag, November 2

Robert Frank: «Trolley. New Orleans», 1955/56. © The June Leaf and Robert Frank Foundation

Vor hundert Jahren wurde Robert Frank geboren. Mit seinem Vermächtnis «The Americans» – einer Bildreportage über die Vereinigten Staaten der fünfziger Jahre – hielt er der amerikanischen Gesellschaft den Spiegel vor. Der zu den US-Wahlen neu aufgelegte Fotoband hat seine Gültigkeit behalten.

Vielleicht war es dieser Blick von aussen, der auch heute Augen zu öffnen vermag: der Blick eines Europäers, genauer eines Schweizers, auf die USA. Aber noch etwas führte dazu, dass «The Americans» zum Vermächtnis von Robert Frank (1924–2019) wurden und seinen Ruhm als einer der grössten Fotografen des 20. Jahrhunderts begründeten: Sein Blick auf eine fremde Kultur war nicht von Schönfärberei oder gar Euphorie vernebelt.

Der vor hundert Jahren, am 9. November 1924, in eine jüdische Familie in Zürich geborene Fotograf schilderte seine Wahlheimat nicht als das Land der Verheissung. Seine grossangelegte Bildreportage, die rund 28 000 Aufnahmen umfasst, blieb der Wirklichkeit verpflichtet. 83 Aufnahmen von diesem immensen Fundus fanden Eingang in sein Fotobuch «The Americans». Sie zeigen das Amerika der fünfziger Jahre – unbeschönigt und, ja, vielleicht auch desillusionierend.

Damit erwies Robert Frank dem «Land der unbegrenzten Möglichkeiten» einen doppelten Dienst, ohne dass er dies wohl beabsichtigt hätte. Wer sich «The Americans» anschaut – und ums Schauen ist es Frank immer an erster Stelle gegangen in seiner Fotokunst –, macht sich weder über das Amerika von heute falsche Illusionen, noch verfällt er in nostalgische Rückschau auf vermeintlich bessere Zeiten.

«Antiamerikanisch»

Robert Frank verliess erstmals die Schweiz in Richtung New York im Jahr 1947. Damals war er 23 Jahre alt. Zwischen 1949 und 1953 reiste der junge Fotograf zwischen Europa und Amerika hin und her. Erst in den siebziger Jahren fasste er in New York Fuss und gründete eine Familie.

Die Bildreportage ist zweifellos sein Hauptwerk und stellt eines der einflussreichsten künstlerischen Dokumente der Fotogeschichte dar. Ermöglicht wurde sie mithilfe des einflussreichen Fotografen Edward Weston 1955 durch ein Guggenheim-Stipendium. In einem Gebrauchtwagen fuhr Frank quer durch Amerika, von Stadt zu Stadt, von Gliedstaat zu Gliedstaat. Er klapperte nicht weniger als 48 Teilstaaten ab. Ohne präzises Ziel und Konzept. Allein von seinem fotografischen Instinkt geleitet.

Robert Frank: «Drug Store – Detroit», 1955/56 (links); «Savannah, Georgia», 1955/56.

Es war die Zeit der Beat-Generation und der Verse von Jack Kerouac, Allen Ginsberg und William S. Burroughs. Und es war die Ära der Jazz-Koloraturen eines Miles Davis, Charlie Parker und Chet Baker. Diese kulturellen Klangnoten geben Robert Franks Fotoband bis heute seinen ganz eigenen Sound.

In diesem fotografischen Stimmungs-Amalgam aber kommt vor allem Franks einzigartiges Vermögen zum Ausdruck, die Komplexität eines Landes und seiner Menschen einzufangen: diese verstörende Widersprüchlichkeit und Gegensätzlichkeit, die die amerikanische Gesellschaft ausmacht. Bei aller kompromisslosen Nüchternheit, mit der Frank durch den Sucher seiner Kamera blickte, tat er es immer auch mit der höchsten Empathie für sein Sujet.

Zuerst erschien sein Fotoalbum 1958 in Frankreich unter dem Titel «Les Américains» (bei Delpire, Paris). Erst ein Jahr später fand sich schliesslich auch in den Vereinigten Staaten ein Verleger (Groove Press, New York). Diese Verzögerung hatte mit der beissenden Kritik zu tun, die Frank entgegenschlug. Seine «Amerikaner» wurden als «antiamerikanisch» abgelehnt.

Robert Frank: «Detroit», 1955/56 (links); «Rodeo – New York City», 1955/56.

Das Buch sei ein «warzenübersätes Porträt» Amerikas – das Produkt «eines freudlosen Mannes, der das Land hasst, das ihn aufgenommen hat . . ., eines Lügners, der sich auf perverse Weise in der Art von Welt und der Art von Elend sonnt, die er sucht und die er permanent kreiert», hiess es in der Presse.

Bei aller Ablehnung machten «The Americans» Robert Frank aber auch schlagartig bekannt als einen Fotografen mit einer radikal eigenen Position und Sicht auf die Dinge. Entstanden war die Saga eines ziemlich brüchigen Lebensgefühls. Mit seinem Sozialporträt der boomenden Nachkriegs-USA kratzte Frank empfindlich an Amerikas Selbstbild.

Frank fotografierte spielende Kinder im Müll der Strassen New Yorks. Er machte in New Orleans Schnappschüsse von weissen und schwarzen Buspassagieren. Er nahm in einem öffentlichen Stadtpark im Gliedstaat Michigan junge Liebespaare in ihrer innigen Zweisamkeit auf. Er fotografierte junge schwarze Männer, die während eines Begräbnisses in South Carolina neben ihren Autos warten. Er fing die Blicke von New Yorker Teenagern in einem Laden für Süssigkeiten ein. Oder die einsamen Gestalten hinter Fenstern und einem im Wind flatternden Sternenbanner, die in New Jersey eine Parade beobachten.

Zeitlose Gültigkeit

«Make America great again» wurde in Präsidentschaftswahlkämpfen der USA immer wieder bemüht, so auch von Ronald Reagan im Rahmen seines Wahlkampfs von 1980. Donald Trump machte den Slogan zum Motto seines Wahlkampf von 2016. Als hoffnungsvolle Beschwörung hatte der Spruch aber bereits seine Gültigkeit, als «The Americans» erschienen waren.

Denn Amerika war auch damals nicht gross und strahlend, wie es der Mythos über dieses Land haben will. Zumindest nicht in den Augen des Schweizer Fotografen. Die «Grossartigkeit» Amerikas sah Robert Frank vor allem in dessen disparater Vielschichtigkeit, wie er sie in seiner fotografischen Bildpoesie zu verdichten verstand.

Robert Frank: «Navy Recruiting Station, Post Office – Butte, Montana», 1955/56 (links); «Ranch Market – Hollywood», 1955/56.

Die zeitlose Gültigkeit von Robert Franks «Amerikanern» verdankt sich aber wohl vor allem dem Umstand, dass er selber als Neuankömmling aus einem kriegsversehrten Europa und Fremder in der Neuen Welt einen Blick hatte für die so typisch amerikanischen Hoffnungen der Menschen. «Schwarz und Weiss ist die Vision von Hoffnung und Verzweiflung», hat Frank einmal gesagt, «das ist es, was ich in meinen Fotos möchte.»

Frank nahm stets die Perspektive eines Aussenseiters ein. Und er nahm die sozialen und politischen Missstände, die Rassendiskriminierung und die Armut wahr. Dies mit grosser Diskretion, nämlich am Rand des Geschehens, im Nebenbei, in einer Körperhaltung, einer Stellung der Hände, einem flüchtigen Gesichtsausdruck.

Wer das Bild einer Gesellschaft erfassen will, muss auf den Hinterbühnen fotografieren, das wusste Frank. Und es waren die zufälligen Szenen solcher Nebenschauplätze, mit denen er die Atmosphäre einfing, die den Alltag der Amerikaner seiner Epoche prägte.

«The Americans» sind zweifellos ein hartes, bitteres Porträt der amerikanischen Gesellschaft: ein Epos über betrunkene Cowboys, unterdrückte Minderheiten wie etwa die schwarze Bevölkerung, heuchlerische Politiker. Es ist der Eindruck eines Amerika in seiner ganzen Tristesse und eigenartig-einzigartigen Verlassenheit, den uns Frank in seinen Bildern hinterlassen hat.

Dieses poetisch-düstere Bild der amerikanischen Gesellschaft wird heute in den USA nicht länger als Beleidigung empfunden. Es wird in Ausstellungen gewürdigt und gefeiert und jetzt – im Präsidentschaftswahljahr – in Buchform neu aufgelegt.

Der Spiegel, den Frank vor weit mehr als einem halben Jahrhundert seinen neuen Landsleuten vorhielt, stösst heute in der schwierigen und herausfordernden Zeit eines gespaltenen Landes nicht mehr auf Ablehnung, sondern wird von vielen als Mahnung verstanden. Schliesslich erwies sich Robert Frank für die Amerikaner, was die Fähigkeit zur Selbstreflexion betrifft, als ein grossartiger Lehrer.


Robert Frank: The Americans (Aperture, 2024)

Neuauflage und Ausstellung

Die Neuauflage von «The Americans» im New Yorker Aperture-Fotoverlag erscheint gleichzeitig zur Ausstellung «Life Dances On: Robert Frank in Dialogue» im Museum of Modern Art in New York (bis 11. Januar 2025). Auf dem Buchdeckel ist Robert Franks «Trolley – New Orleans» von 1955/56 abgebildet. © The June Leaf and Robert Frank Foundation

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