Wie konnte es geschehen, dass die 20-jährige Austauschstudentin Amanda Knox ohne Beweise erst von der Öffentlichkeit und dann vor Gericht wegen Mordes angeklagt wurde? Eine neue Serie sucht nach Antworten.
Was 2007 geschah, ist längst mehr als nur ein Mordfall. Am 2. November wird die 21-jährige Engländerin Meredith Kercher im Haus in der italienischen Stadt Perugia tot aufgefunden. Noch bevor die Ermittlungen gesichert sind, geraten Amanda Knox, eine von Kerchers drei Mitbewohnerinnen, und deren Freund Raffaele Sollecito ins Visier. Die Gründe dafür sind weniger Beweise als Gefühle: Die Polizisten nehmen Knox’ Verhalten als «ungewöhnlich» wahr. Zu locker, zu verspielt, zu ungerührt.
Seither wurde der Fall unaufhörlich inszeniert und interpretiert. Zahllose Zeitungsstorys, Dokumentationen, Fernsehfilme, Bücher und Podcasts befassen sich damit, ob Knox tatsächlich unschuldig ist – nun also erneut: «The Twisted Tale of Amanda Knox», eine achtteilige Disney+-Serie. Knox hat diese mitproduziert.
Der andere Teil der Geschichte
Die Produktion, in weiten Teilen auf Italienisch gedreht, zieht ihre Zuschauer gekonnt auf die Seite von Amanda Knox. In einem Supercut wird kurz ihre unbeschwerte Kindheit in Seattle nachgezeichnet, bis zu dem Moment, in dem sie sich strahlend dazu entscheidet, in Italien erwachsen zu werden. Knox (Grace Van Patten) reist ins pittoreske Perugia.
Die 20-jährige Austauschstudentin feiert, nimmt Drogen, verliebt sich in den nerdigen Italiener Raffaele Sollecito (Giuseppe De Domenico). Dann wird ihre Freundin erstochen aufgefunden.
Knox verkennt nicht nur den Ernst der Lage, als sie zu einer der «wichtigsten Zeuginnen» der Polizei wird, sondern verstrickt sich aufgrund sprachlicher Missverständnisse und ihrer Naivität derart in Widersprüche, dass sie und Sollecito zu den Hauptverdächtigen werden. Als verheerend erweist sich Knox’ Versuch, in gebrochenem Italienisch ohne Übersetzer und ohne Anwalt mit der Polizei zu sprechen.
Es kommt zum Prozess. Knox und Sollecito werden verurteilt, 2011 freigesprochen, 2014 erneut verurteilt und 2015 schliesslich durch das höchste Gericht in Italien endgültig freigesprochen. Grund für den Freispruch war allerdings nicht der Beweis von Knox’ Unschuld. Vielmehr gab es Fehler beim Nachweisen ihrer Schuld. Bei den Verhören wurde dem Paar keine angemessene Rechtshilfe gewährt, und eine DNA-Spur von Knox an einem Küchenmesser wurde später als möglicher Kontaminationsfehler eingestuft, die mangelhafte Sicherung des Tatorts und massive Fehler bei der Spurensicherung wurden kritisiert.
Verurteilt bleibt nur der wegen Gewalt und Waffenbesitz vorbestrafte Rudy Guede, dessen DNA-Spuren am Tatort gefunden wurden. Er sass dreizehn Jahre und bis 2021 in Haft. Aber die meisten Menschen erinnern sich nicht an diesen Teil der Geschichte.
«La Luciferina»
Für den Staatsanwalt Giuliano Mignini war Knox eine «Luciferina», eine Teufelin. Er verglich sie mit Joseph Goebbels. Die Boulevardpresse erfand aus Partys, Liebesaffären, aus einem Vibrator im Bad ein Bild von Verderbnis und Sexgier – nicht, weil es Beweise gab, sondern weil sich die Geschichte so gut verkaufen liess.
Kaum ein anderes Verfahren zeigt so klar, wie sehr True Crime von Projektionen lebt: Knox wurde zur Leinwand für Ängste und Phantasien – als schrille Amerikanerin, naive Studentin, angebliche Verführerin, kalte Mitbewohnerin.
«The Twisted Tale of Amanda Knox» führt einfühlsam durch Knox’ Geschichte: die Verhaftung, Angst und Ungewissheit im Gefängnis, die Gerichtsverhandlung und öffentliche Vorverurteilung, die Schwierigkeit, wieder ins Leben zu finden. Grace Van Patten trifft die Gesten ihres Vorbilds: der gelegentlich singende Tonfall, das Grunzen vor Lachen. Vor allem aber schafft sie es, einen mitleiden zu lassen.
Amanda Knox arbeitete mit der Showrunnerin K. J. Steinberg («This Is Us») und mit Monica Lewinsky (ebenfalls Co-Produzentin) zusammen. Grundlage des Stoffs ist Knox’ Buch «Free: My Search for Meaning» (2025), das sie selbst als Versuch versteht, ihr öffentliches Bild zu korrigieren. Die Serie liefert ein neues, geglättetes Bild von Knox, das jede Unschärfe tilgt. Doch der Zuschauer sieht nie nur das, was war. Sondern das, was ein Blick, ein Schnitt, eine Stimme davon hinterlässt. Doch wie sehr sind wir bereit, einer Stimme zu trauen, die das Misstrauen selbst inszeniert?
Schieflagen in der Gesellschaft
True Crime hat im besten Fall das Potenzial, über Schieflagen in Gesellschaft, Rechtssystem und Staatsgewalt aufzuklären, über sperrigste Themen also, die sich Laien in nüchternen Gerichtsreportagen selten gut vermitteln lassen. Im schlimmsten Fall wirkt die Sensationslust, die aus dem Leid anderer Unterhaltungsware macht.
Knox sagte kürzlich zur «New York Times», zum ersten Mal sei sie am Steuer ihrer eigenen Geschichte. Und doch bleibt der Widerspruch: Die Serie lebt von den gleichen Mechanismen, die sie kritisiert. Manche Szenen wirken übersteigert – Verhöre wie Folter, ein Gerichtsprozess als Tumult, Journalisten als Hyänen. Knox erscheint als Märtyrerin, die ihren Peinigern am Ende vergibt. Aber die grosse Wahrheit, auf die sie pocht, löst sich im Melodram auf. Was bleibt, ist ein neues Narrativ in einem unendlichen Netz von Narrativen.
Meredith Kercher, die ermordete Mitbewohnerin, erscheint immer wieder kurz in Rückblenden: als Freundin, als leuchtende Figur, die den Hintergrund wärmt. Genau wie im wirklichen Leben verschwindet sie im Dunkel neben dem Scheinwerferlicht, das auf Knox gerichtet bleibt. Im Leben wie in der Fiktion wird ihr Tod überlagert von der Geschichte Amanda Knox’. Die Familie Kercher hat diese Verschiebung immer wieder beklagt.
Die Schwester von Meredith, Stephanie Kercher, sagte vergangenes Jahr zum «Guardian», sie könne schwer verstehen, welchem Zweck eine weitere Serie diene. Auch die Einwohner von Perugia reagierten empfindlich. Der Bürgermeister schrieb einen Entschuldigungsbrief an alle im Städtchen. Denn was für die Filmwirtschaft Stoff ist, ist für Perugia eine Wunde.
Böse Doppelgängerin
Was in jener Nacht genau geschah, wird nie endgültig geklärt werden. Rudy Guede wurde verurteilt, ob er alleine agierte, wurde dagegen nie bewiesen. Guede änderte seine Aussagen mehrfach: Anfangs bestritt er jede Beteiligung, später erklärte er, er habe Meredith schwer verletzt vorgefunden und Knox sowie Sollecito aus der Wohnung fliehen sehen. In weiteren Versionen beschuldigte er die beiden noch deutlicher, ohne je selbst die Verantwortung für den Mord zu übernehmen.
Knox und Sollecito wurden freigesprochen – und doch bleibt in vielen Köpfen der Verdacht. Das ist die eigentliche Tragik: dass Amanda Knox, selbst nach Freispruch durch das höchste italienische Gericht, nie frei von Schuld geworden ist.
Seit ihrer Rückkehr in die USA hat Knox ein Leben aufgebaut: Sie moderiert einen Podcast, schrieb Essays, engagiert sich für Justizreformen. Sie kämpft darum, ihre «böse Doppelgängerin» loszuwerden – die mörderische Figur, die Boulevard und Staatsanwalt erschufen.
Die Schriftstellerin Virginia Woolf sagte einmal, dass sie es vorziehe, Fiktion zu schreiben, weil dort die Wahrheit wichtig sei. Fiktion ist manchmal wahrer, weil sie verdichten darf und universelle Wahrheiten darstellt, ohne Profit daraus zu schlagen, «wirklich wahr» zu sein. True Crime dagegen lockt damit, eine wahre Geschichte zu erzählen, und weckt dadurch Neugier und auch Vertrauen, das eigentlich nicht gerechtfertigt ist, weil es selten die versprochene Wahrheit abbildet. Denn Spannung entsteht nicht aus Wahrheit, sondern aus Auswahl, Zuspitzung – mit anderen Worten: Inszenierung.
Knox lebt in dem Paradox, ihre Geschichte immer wieder erzählen zu müssen, um sie endlich hinter sich lassen zu können. Die Serie zeigt weniger, was in Perugia geschah, als vielmehr, was True Crime ist: ein Genre, das im Namen der Wahrheit Geschichten produziert, die unauflösbar bleiben.
«The Twisted Tale of Amanda Knox» läuft seit dem 20. August auf Disney+. Am Starttag werden zwei Folgen veröffentlicht, dann folgt jede Woche eine neue.