Gegen Tidjane Thiam wurden diese Woche erneut Vorwürfe der Überwachung laut. Doch dieser ist bereits ganz woanders und strebt in seiner Heimat das höchste politische Amt an.
Hunderte Ivoirer umringen einen gross gewachsenen Politiker. Er trägt ein weiss-grünes Hemd mit dem Logo seiner Partei. Die Menschen lachen, schütteln ihm die Hände, fassen ihn an. Der Mann im politischen Werbevideo heisst Tidjane Thiam, 62 Jahre alt, ehemaliger Chef des britischen Versicherers Prudential und der Schweizer Grossbank Credit Suisse.
Der erfolgreichste Sohn von Côte d’Ivoire steuert gerade auf seinen nächsten Karrierehöhepunkt zu. Thiam hat sich Ende 2023 zum Anführer der grössten Oppositionspartei wählen lassen und dürfte bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr antreten.
Weit weg sind die Schweiz und der Zürcher Paradeplatz, wo er bis 2020 die Grossbank Credit Suisse leitete. Thiam war der drittletzte CEO der Escher-Bank, bevor sie unterging. Doch die Nachwehen seiner Amtszeit beschäftigen den Finanzplatz bis heute.
Diese Woche machte die NZZ eine Klageschrift aus dem amerikanischen Gliedstaat Washington publik, die alten Vorwürfen gegen den ehemaligen Chef der Credit Suisse neuen Auftrieb gibt. Thiam habe ihn zwischen 2016 und 2019 überwachen und bespitzeln lassen, erklärt der Ex-Mann von Thiams heutiger Ehefrau in der Anklage. Thiam selbst habe die Beschattung in Auftrag gegeben. Der Kläger fordert von der CS-Nachfolgerin UBS deshalb eine Entschädigung in Millionenhöhe.
Vorwürfe der Beschattung sind für Thiam nichts Neues. Sie sind der Grund, weshalb er 2020 zurücktreten musste. Damals hatten Schweizer Medien über die Observation von mehreren CS-Konzernleitungsmitgliedern durch ihre Arbeitgeberin berichtet. Er wollte nichts davon gewusst haben.
Der ehemalige CS-Chef bestreitet – wenig überraschend – auch diese neuen Vorwürfe. Viel zu befürchten hat er nicht: Die neue Klage richtet sich nicht gegen ihn persönlich, und die 29 Millionen Ivoirer interessieren sich nicht für Schlagzeilen in der helvetischen Finanzpresse.
Doch in der Schweiz reisst die Klage im Fall einer weiteren Spionageaktion unter Thiams Ägide alte Wunden auf. Im Rückblick sagen etliche der ehemaligen Weggefährten: Die Ernennung zum CS-Chef im Jahr 2015 sei ein Fehler gewesen. Mit seiner Berufung habe sich die damals bereits angeschlagene Grossbank ihrer letzten Chance beraubt, wieder auf den Pfad des Erfolges zurückzufinden.
Der Erfolgs-CEO aus London
Als Thiam vor über neun Jahren zur Credit Suisse kam, galt er als Erfolgs-CEO. Unter dem ehemaligen McKinsey-Berater hatte sich der Aktienkurs des britischen Versicherungskonzerns Prudential mit Sitz in London fast verdreifacht. Leise Zweifel gab es zwar schon damals, ob ein Versicherungsmanager eine kriselnde, systemrelevante Universalbank effektiv führen kann. Doch es überwog die Zuversicht.
Nach fünf Jahren unter Thiam hatte sich diese Hoffnung zerschlagen. Die CS wirkte 2020 wie ein Unternehmen, in dem der Verwaltungsrat nicht einmal mehr den eigenen CEO im Griff hat. Es regierte das Misstrauen. Die Grossbank hatte sogar ihr eigenes Topkader bespitzelt. Ob der CEO selbst den Auftrag dazu gegeben hatte oder nicht, spielte keine Rolle.
Der Ruf der CS erholte sich nicht mehr von der Affäre. Thiam deswegen die alleinige Schuld für den CS-Niedergang in die Schuhe zu schieben, wäre aber zu einfach – und unfair, sagen Personen, die eng mit ihm zusammengearbeitet haben.
Turbulente Biografie
Sein teilweise erratisches Verhalten zwischen 2015 und 2020 sei auch das Resultat seiner Biografie und der Umstände gewesen. So erkrankte Thiams Sohn in dieser Zeit an Krebs und starb im Mai 2020 im Alter von 24 Jahren. Das entschuldige prinzipiell noch nichts, erkläre aber doch einiges, heisst es aus seinem damaligen Umfeld.
Thiam wurde 1962 in Côte d’Ivoire als jüngstes von sieben Kindern einer prominenten Familie geboren. Es waren turbulente Jahre. Als er ein Kleinkind war, sass sein Vater, ein Journalist und Politiker, wegen Hochverrats während dreier Jahre im Gefängnis. Als er neun Jahre alt war, wurde Thiam senior bei einem Putschversuch beinahe erschossen.
Viele Jahre später, als junges Mitglied des ivoirischen Regierungskabinetts, überstand der junge Thiam 1999 selbst einen Militärputsch. Das Erlebnis erschütterte und prägte ihn.
Freund und Feind
Kenner von Thiams CS-Zeit vermuten, dass er aufgrund dieser traumatischen Ereignisse dazu neigte, das Umfeld auf dem Zürcher Finanzplatz in Freund und Feind einzuteilen. Misstrauen war seine Überlebensstrategie. Er fühlte sich oft in seiner Sicherheit bedroht, meist, ohne dass sich die Ängste bestätigten.
Als Bankchef scharte Thiam laut den Aussagen von Weggefährten eine Gruppe von Loyalisten um sich, die zwar oft nicht die nötigen Qualifikationen für ihre Aufgabe mitbrachten, ihm aber treu ergeben waren. Damit stiess er bankintern viele langjährige Angestellte vor den Kopf. Kritiker sprachen von einer eigentlichen Parallelstruktur an der Bankspitze.
Thiam galt im Umgang und Auftritt zwar als staatsmännisch. Aber wenn ihm Journalisten unbequeme Fragen stellten, etwa zum Aktienkurs und zu verpassten Gewinnzielen, konnte er auch vor versammeltem Publikum die Contenance verlieren.
Verschärfend hinzu kam, dass sich der westafrikanische CS-Chef in seiner Zeit in der Schweiz immer wieder mit rassistischen Vorfällen konfrontiert sah. Die «New York Times» beschrieb in einem Artikel im Jahr 2020 nach Thiams Abgang mehrere solche Episoden. Eine spielte sich an der Party zum 60. Geburtstag des damaligen CS-Verwaltungsratspräsidenten Urs Rohner ab, des Mannes, der ihn nach Zürich gelotst hatte.
Ein dunkelhäutiger Künstler trat an dem Fest als Hausmeister mit Besen auf die Bühne. Am selben Anlass setzten sich Freunde Rohners Afro-Perücken auf und gaben ein Lied zum Besten. Die Credit Suisse entschuldigte sich nach der Veröffentlichung des Artikels.
Eine Bank, die zu viele Risiken in Kauf nahm
Abgesehen von zwischenmenschlichen und atmosphärischen Problemen kam Thiam bei der CS aber auch betriebswirtschaftlich auf keinen grünen Zweig. Er wollte zwar das Richtige tun. Die Vermögensverwaltung ausbauen, das Investment Banking herunterfahren. Doch er scheiterte.
Er sparte viel Geld ein, doch am falschen Ort, etwa beim Risikomanagement, und die CS verdiente bei seinem Abgang immer noch zu wenig, um langfristig überlebensfähig zu sein. Sie blieb eine Bank, die systematisch viel zu hohe Risiken einging.
Thiam selbst will von einer Mitschuld am Untergang der Credit Suisse nichts wissen. Als die UBS die Credit Suisse im März 2023 in einer staatlich orchestrierten Aktion notfallmässig übernehmen musste, veröffentlichte er in der «Financial Times» einen Gastkommentar. Im ersten Abschnitt heisst es: «Als ich als CEO der Credit Suisse zurücktrat, hatte das Unternehmen (. . .) gerade den höchsten Gewinn seit zehn Jahren erzielt.» Der Rest lässt sich mit drei Wörtern zusammenfassen: Nicht mein Fehler.
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