Sonntag, November 17

Die Bilder von zwei Nationalräten, die im Bundeshaus mit einem Polizisten rangen, sorgten im Sommer für Aufsehen. Über diesen und zwei weitere Fälle muss nun die Immunitätskommission entscheiden.

In der Sommersession spielte sich im Bundeshaus eine beispiellose Szene ab: Während eines Besuches des ukrainischen Parlamentspräsidenten lieferte sich der SVP-Nationalrat Thomas Aeschi ein Handgemenge mit dem Sicherheitsdienst. Aeschi und sein Parteikollege Michael Graber wollten nicht akzeptieren, dass die Treppe wegen des Besuchs aus Sicherheitsgründen kurzzeitig gesperrt wurde. Mit körperlichem Einsatz versuchten sie sich Durchgang zu verschaffen, und Aeschi wurde von einem Polizisten zu Boden gerissen.

Die Bilder des Vorfalls verbreiteten sich im Netz wie ein Lauffeuer. Und Aeschi sowie Graber kassierten eine Strafanzeige wegen Behinderung einer Amtshandlung. Ermitteln darf die zuständige Staatsanwaltschaft allerdings nur, falls die parlamentarische Immunität von Aeschi und von Graber aufgehoben wird. Darüber berät am Montag die Immunitätskommission des Nationalrates.

Lappalien sollen Parlamentsbetrieb nicht lähmen

Mitglieder des Parlaments sind wegen ihres Amtes vor Strafverfolgung besser geschützt. Gegen sie kann die Justiz nicht automatisch vorgehen, falls es um eine strafbare Handlung in «unmittelbarem Zusammenhang mit der amtlichen Stellung oder Tätigkeit» geht. In solchen Fällen müssen die zuständigen Gremien beider Räte zustimmen, damit die Strafjustiz aktiv werden kann. Im Nationalrat ist dies die Immunitäts- und im Ständerat die Rechtskommission.

Solche Garantien sollen den parlamentarischen Betrieb sicherstellen. Denn wenn Ratsmitglieder nach jeder Lappalie im Wahlkampf oder auf Youtube einen juristischen Kleinkrieg führen müssten, wäre es um die parlamentarische Effizienz wohl bald noch sehr viel schlimmer bestellt, als dies schon jetzt der Fall ist. Immer schwingt jedoch auch der Verdacht mit, es gehe gar nicht um den Schutz des parlamentarischen Betriebs, sondern um die blosse Privilegierung einer politischen Elite. Entscheide der Immunitätskommission werden deshalb oft mit besonderem Interesse verfolgt.

Und bei der Kommission liegen am Montag sogar noch drei weitere Gesuche auf dem Pult. Auch diese betreffen SVP-Politiker: So sollen Ständerat Marco Chiesa und der frühere Nationalrat Peter Keller bei einer Kampagne zu den eidgenössischen Wahlen von 2023 die Antirassismus-Strafnorm verletzt haben. Im Fokus stehen Chiesa und Keller, weil sie als Parteipräsident und als Generalsekretär für den Auftritt der SVP verantwortlich waren.

Fremdenfeindliche Wahlkampagne im Fokus

Damals machte die Partei aus Polizeimeldungen eine Kampagne. Über Schlagzeilen wie «Rumäne begeht Telefonbetrug» schrieb sie: «Neue Normalität?» Prompt gingen Strafanzeigen wegen Verstosses gegen die Antirassismusstrafnorm ein. Auch Andreas Glarner wird ein Verstoss gegen diese Strafnorm vorgeworfen. Ihm ist ein islamfeindlicher Tweet zum Verhängnis geworden, den er im Juni abgesetzt hatte. Am Montagabend will die Kommission über ihre Entscheide informieren.

Für die Kommission stellen sich dabei zwei Fragen. Die erste lautet: Besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den vorgeworfenen Handlungen und der amtlichen Stellung. Nur dann besteht die parlamentarische Immunität überhaupt. Bei Äusserungen im Rahmen von politischen Debatten – wie in den Fällen von Chiesa, Gerber und Glarner – wird davon meist ausgegangen. Zum selben Schluss kommt die Kommission aber wohl auch im Fall von Aeschi und Graber. Sie waren als Nationalräte im Bundeshaus unterwegs und wollten mit den Handgreiflichkeiten ihre angeblichen Rechte als Parlamentarier durchsetzen.

Wird die Immunität bejaht, müssen die Kommissionen – zweitens –abwägen, ob diese aufgehoben werden soll. Sie müssen abwägen, ob das Interesse an der Strafverfolgung oder jenes an einer ungehinderten Ausübung des Mandats grösser ist. Im Fall von Chiesa hat die Rechtskommission des Ständerates die Linie bereits vorgegeben: Er soll seine Immunität behalten. Es wäre überraschend, wenn die Immunitätskommission anders entscheiden würde. In ähnlichen Fällen wurde die Aufhebung der Immunität bisher immer abgelehnt. Von dieser Praxis dürften Chiesa, Keller und Glarner also profitieren.

Eine Prozesslawine für Jean Ziegler

Es gibt generell nur wenige Fälle, bei denen das Parlament die Strafverfolgung gegen eines seiner Mitglieder zuliess: Vor dreissig Jahren hatte der SP-Nationalrat Jean Ziegler mit einem Buch für Empörung gesorgt, in welchem er die Schweiz als gigantische Geldwaschanlage für Diktatoren und Mafiaorganisationen beschrieb. Es hagelte Strafanzeigen und Proteste. Schliesslich wurde entschieden, Zieglers Buchpublikation falle nicht unter die Immunität – der Weg für ein Strafverfahren war frei. Für Ziegler hatte dies eine Prozesslawine zur Folge.

Aufgehoben wurde die relative Immunität in den letzten Jahren allerdings nur ein einziges Mal. Betroffen war der frühere SVP-Nationalrat Christian Miesch. Er wurde verdächtigt, er habe sich für eine Interpellation zugunsten kasachischer Interessen entschädigen lassen, womit Bestechung im Raum stand. Miesch erklärte damals, ihm seien lediglich Spesen vergütet worden. Tatsächlich wurde das Strafverfahren später eingestellt. Der Fall zeigt eine weitere Besonderheit in Bezug auf die Immunität: Es geht beim Entscheid über Aufhebung nicht darum, ob ein Straftatbestand wirklich erfüllt ist.

Wird die Debattenkultur härter?

Auch wenn der Fall von Aeschi und Graber am Montag in der Kommission am meisten zu reden geben dürfte, wäre es aufgrund der bisherigen Praxis eine Überraschung, wenn die Immunität der beiden wegen ihres vergleichsweise geringfügigen Straftatbestandes aufgehoben würde. Zusätzlich begünstigt wird die Lage von Aeschi und Graber möglicherweise auch, weil die SVP in der Kommission wegen ihrer Fraktionsgrösse vier von neun Mitgliedern stellt. In den Ausstand treten müssten diese nicht, wie Kommissionspräsident Pierre-André Page (SVP) im «Tages-Anzeiger» erklärte.

Und noch etwas fällt auf: Die Immunitätskommission muss an einem Tag gleich fünf Gesuche um Aufhebung der Immunität behandeln – eine Premiere. Tatsächlich zeigt sich in den letzten Jahren eine Häufung solcher Fälle. Zwischen 1980 und 2011 stand die Immunität bei insgesamt 30 Mitgliedern des Nationalrates zur Debatte – es ging also um etwa einen Fall im Jahr. Seit 2012 waren und sind die zuständigen Kommissionen bereits mit siebzehn Parlamentarierinnen oder Parlamentariern befasst, wobei es häufig um Äusserungsdelikte geht. Möglicherweise widerspiegelt sich darin auch die in den letzten Jahren härter gewordene Debattenkultur.

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