Mit grossartiger Essaykunst und profunder Kenntnis porträtiert der Literaturwissenschafter zwölf der bedeutendsten Autoren der klassischen Moderne. Von Thomas Mann bis Virginia Woolf.
Wie macht er das? Diese Mischung aus Schlüssellochblick, kulturkritischem Parlando und literarischer Exegese auf höchstem Niveau? Jeder Essay eine kleine ästhetische Preziose, ideal für verschiedenste Anwendungen: das schnelle Leseglück zwischen den Ansprüchen des Tages; die erste Begegnung mit einem Dichter, einer Dichterin von Weltrang.
Michael Maars Textsammlung «Leoparden im Tempel» ist der Beweis, dass es geht: zu instruieren und zu verblüffen; Erhellendes zu schreiben, ohne das Rätsel der Literatur zu entzaubern. Alles auf wenigen Seiten, alles in klarstem Stil, der nie ins Prätentiöse abgleitet, sondern in seinen besten Momenten den Eifer des Liebenden mit dem Scharfsinn des Experten verbindet.
Zwölf Schriftsteller und Schriftstellerinnen stellt er in seinen Essays vor. Dieses Büchlein ist, historisch betrachtet, auch eine kleine Geschichte der klassischen Moderne, sowohl Aufstiegshilfe beim literarischen Parnass als auch Kursus zur Vertiefung bereits vorgeformter Leseinteressen. Proust, Musil, Virginia Woolf, Nabokov, Kafka und Thomas Mann: Giganten der Dichtung, prädestiniert, die Leser einzuschüchtern.
Subtile Porträts
Wer hätte noch nicht vor dem Textmassiv des «Mannes ohne Eigenschaften» verzagt? Wer kennt das nicht: das jahre-, wenn nicht jahrzehntelange Umkreisen eines Riesenwerks wie der «Recherche» von Proust oder der zwölf Bände umfassenden Romansammlung «A Dance to the Music of Time» von Anthony Powell. Maar erschliesst uns diese Monumente mit einem in der Literaturwissenschaft lange verpönten Zugang: Er stellt uns den Künstler, die Künstlerin als eigensinnigen Charakter und Einzeltäter der Dichtung vor, zeigt uns ihr Beschädigtsein, ihre Idiosynkrasien (und ja, auch ihre Idiotien, wie im Fall Canettis, dessen Narzissmus in Bosheit umschlagen konnte).
Aber es ist eben keine Kolportage. In die Charakterporträts hineingewoben sind die markanten Linien des betreffenden Werks, seine ästhetische Signatur. Und so erfahren wir Überraschendes: über die Teufelsfixiertheit Thomas Manns, die genialische, das Werk vorantreibende Zwanghaftigkeit Prousts, die tragische Verknüpfung von psychischer Zerrüttung und ihrer fulminanten Übersetzung in Literatur bei Virginia Woolf.
Besonders bei Borges, Giuseppe Tomasi di Lampedusa und Powell kommt Maars Talent zur Überblendung von Biografie und Werkstruktur zur Geltung. Hier streift der Ton bisweilen das offen Schwärmerische, und das ist gut so: Man kann Leser mit der Begeisterung für einen Autor am besten mit Begeisterung infizieren.
Über Lampedusas «Leoparden» fällt der hellsichtige Satz: «Es gibt nichts Gefährlicheres für das literarische Überleben als eine bestimmte Art der Popularität.» Lampedusas Roman wurde durch Viscontis Verfilmung mit Burt Lancaster und Alain Delon zu einem Medien- und Kulturphänomen – als literarische Wegmarke der Moderne geriet der Text darüber fast in Vergessenheit.
So bewährt sich Maar hier als Archäologe der gar nicht so vergangenen Romangeschichte und legt frei, was eigentlich immer schon deutlich war, wir hätten eben nur genauer hinschauen, das heisst: lesen müssen.
Nur bei Kafka wird Maars sonst so behender Schritt durch Text- und Lebensgänge etwas ungelenk. Dass Kafka nicht auszudeuten ist und eine, im Slang der modernen Psychologie, hochneurotische Beziehung zu Frauen pflegte, dies festzustellen, wirkt wie das Ritual einer von ihrer eigenen Vorsicht erschöpften Hermeneutik. Über Kafka zu schreiben, scheint heutzutage kaum mehr zu sein als die Artikulation des eigenen Unvermögens, diese Dichtung auszulegen. So wächst der Nimbus dieses Autors beharrlich weiter bei gleichzeitig abnehmender Lust, ihn tatsächlich zu lesen.
Pures Leseglück
Aber was ist eine einzelne schwächere Kommentierung im Rahmen solch exzellenter Essays? Maars Texte sind, bei allem Respekt vor ihren Gegenständen, selber Literatur. Sie verdoppeln die Idee der Dichtung: dass Wahrheit und Erkenntnis im Stil aufscheinen. Über Proust, den chronisch Kranken, schreibt Maar, er habe sich nicht an der «Flucht ins Zeit- und Körperlose hindern lassen (. . .), mit der Krankheit als mürrischer Amme, die ihn nicht wiegte, aber weitertrug». Kann man die vertrackte Gemengelage von Pathologie und künstlerischem Vermögen eleganter in Worte fassen?
Es ist überhaupt eine gute Zeit für die Liebhaber literarhistorischer Essays: Der Steidl-Verlag brachte unlängst Charles Dantzigs Essaysammlung «Wozu lesen?» heraus, eine polemisch-unterhaltsame, von französischem Esprit befeuerte Lektürebiografie, die in Teilen auch Weltliteraturgeschichte ist. César Airas «Weltflucht», erschienen bei Matthes & Seitz, vereint kritische Versuche über Stevenson, den Kriminalroman und endet mit einer fulminanten Reflexion über das Essayschreiben selbst.
Und wer sich, was die Lesedauer angeht, eher an einem von Instagram oktroyierten Zeitgefühl orientiert, kann in Michael Köhlmeiers wunderbarer Capriccio-Sammlung «Das Schöne» (Hanser-Verlag) schmökern. Kürzestreflexionen über grosse Dichtung, von der Bibel über Hamlet bis zu Kästners «Doppeltem Lottchen».
Man stelle sich eine Gesprächsrunde dieser Kenner und Liebhaber der Literatur vor: Es müsste eine virale, das Leseglück verbreitende Unternehmung sein.
Michael Maar: Leoparden im Tempel. Porträts grosser Schriftsteller. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2023. 144 S., Fr. 33.90.