Unmittelbar nach seinem Tod wurde er verehrt wie ein Heiliger: Thomas von Aquin hat die antike Philosophie mit dem christlichen Denken versöhnt. Vor 800 Jahren wurde er geboren.

Zu Beginn des Jahres 1274 war Thomas von Aquin auf dem Weg von Neapel zu einem Konzil in Lyon. Er war bereits krank, nach einem Unfall verschlechterte sich sein Zustand schnell – er soll sich den Kopf am Ast eines umgestürzten Baums gestossen haben. Als er spürte, dass sein Ende nahte, suchte er Unterkunft in der auf dem Weg gelegenen Zisterzienserabtei von Fossanova in der Nähe von Rom.

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Nach seinem Tod, nur wenige Tage später, wurde er vor dem Hochaltar in der schönen spätromanischen Klosterkirche beigesetzt. Da der «engelsgleiche Doktor» den Ruf besass, ein makelloses Leben geführt zu haben, und seiner Leiche eine wundersame Wirkung zugeschrieben wurde, entwickelte sich alsbald eine örtliche Heiligenverehrung.

Die Zisterzienser fürchteten deshalb, dass die Dominikaner, zu deren Orden Thomas von Aquin gehörte, ihnen diese wertvolle Reliquie abspenstig machen könnten. Sie vergruben daher die Leiche von Thomas an einem verborgenen Platz, legten sie danach aber wieder ins ursprüngliche Grab, da ihr Abt von Albträumen heimgesucht wurde. Aus erneuter Angst vor einem möglichen Leichenraub trennten sie später den Kopf als wichtigsten Teil der Reliquie ab und versteckten ihn.

Dieser Kopf, zusammen mit dem übrigen Körper, wurde auf kirchliches Geheiss etwa hundert Jahre später in den alten Dominikanerkonvent nach Toulouse überführt, dorthin, wo der heilige Dominikus im Jahr 1215 seinen Orden gestiftet hatte. Vor zwei Jahren hat nun dieser Schädel eine Weltreise angetreten, von der er noch nicht zurückgekehrt ist. Mit der Tournee der Reliquie sollen mehrere Jubiläen begangen werden: 700 Jahre seit der Heiligsprechung von Thomas von Aquin (1323), 750 Jahre seit seinem Tod (1274) und 800 Jahre seit seiner Geburt (1225).

Gegen den Irrglauben kämpfen

Das Leben des heiligen Thomas ist beeindruckend; sein Nachleben ist es allerdings noch viel mehr. Geboren wurde Thomas 1225 auf Schloss Roccasecca bei Aquin in Latium. Er entstammte dem Adelsgeschlecht der «di Aquino». Die Familie hatte ihn für die kirchliche Laufbahn bestimmt. Diese schlug Thomas auch bereitwillig ein. Als Neunzehnjähriger trat er in einen Orden ein. Jedoch in den Dominikanerorden, der sich damals explosiv verbreitete. Diese Entscheidung versuchte seine Familie durch seine vorübergehende Gefangennahme zu verhindern.

Die Dominikaner waren ein sich der Armut verpflichtender Bettelorden. Ihr Hauptziel war die Predigt, wobei damit insbesondere die predigende Bestreitung des Irrglaubens gemeint war. Der Ordensgründer, der heilige Dominikus, hatte die Unfähigkeit der Weltpriester im Umgang mit den als Ketzer verschrienen Albigensern und Katharern genau beobachtet, welche besser geschult und theologisch versierter waren.

Diesen wollte er mit einem Heer gut ausgebildeter Ordensmänner entgegentreten, und er forderte von seinen Mitbrüdern eine solide Bildung. Die frühe Geschichte des von ihm gestifteten Predigerordens verbindet sich daher aufs Innigste mit der Geschichte der frühen europäischen Universitäten, mit der Entwicklung einer scholastischen Theologie und Philosophie und mit der Intellektualisierung der Glaubenslehre.

Man kann die Vita von Thomas somit einerseits als Folge dieser durch Dominikus gewollten Verflechtung von philosophischer Bildung und theologischer Überzeugungsarbeit sehen. Man kann sie aber auch als die Synthese betrachten, die die damalige universitäre Wissenschaft mit den Bedürfnissen einer theologisch geschulten Kirche zustande gebracht hat. Im Zeitalter des Neuthomismus, jener 1879 von Papst Leo XIII. geforderten Orientierung des katholischen Denkens an der Lehre des heiligen Thomas, wurden dessen Schriften tatsächlich, jeglicher historischen Einordnung entrückt, als Quintessenz theologischen Denkens betrachtet.

Wer hingegen Thomas’ intellektuelle Biografie vor Augen hat, wird Versatzstücke erkennen, die in seinem Werk zusammenkommen. Bereits in seinen Jugendjahren in Neapel war er nicht nur in augustinisches und neuplatonisches Gedankengut eingeführt worden, wie es dem damaligen philosophisch-theologischen Denken entsprach, sondern ansatzweise auch in aristotelische Lehren. Denn das grosse Übersetzungsprogramm der Schriften des Aristoteles aus dem Arabischen und dem Griechischen in die akademische Umgangssprache, das Latein, war damals in vollem Gange.

Jesus und Aristoteles

Unter seinem späteren Lehrmeister in Paris und Köln, dem Dominikaner Albertus Magnus, vertiefte sich Thomas’ Auseinandersetzung mit dem Aristotelismus noch weiter. Sowieso ist seine Lehre ohne Albertus überhaupt nicht denkbar. In seiner darauffolgenden Karriere als Dozent in Paris, Neapel, Orvieto, Rom, Viterbo, erneut Paris und zuletzt wieder in Neapel schrieb er theologische Werke, wovon die grossen Übersichtswerke, die «Summa contra gentiles» und die «Summa theologiae», die berühmtesten sind. In den späteren Jahren verfasste er auch Kommentare zu den Werken von Aristoteles.

Um zu verstehen, welche Bedeutung die Dominikaner Thomas nach seinem Tod zuschrieben, hilft ein ungewöhnliches propagandistisches Gemälde, das Lippo Memmi zugeschrieben wird. Es ist zur Zeit der Heiligsprechung von Thomas um 1323 entstanden und hängt seit 700 Jahren in der Kirche Santa Caterina in Pisa. Es zeigt den Heiligen zentral und in ungewöhnlicher Grösse, mit Heiligenschein und starr auf den Betrachter gerichtetem Blick. Er sitzt vor konzentrischen Zirkeln, die das Weltgebäude darstellen. Goldene Linien strömen von Jesus, ganz oben, direkt auf sein Haupt.

Weitere Linien erreichen ihn von oben aus den Büchern der vier Evangelisten, von Paulus und Moses und von der Seite aus den Büchern der griechischen Philosophen Platon und Aristoteles, deren Bücher ihrerseits durch Thomas’ Bücher angestrahlt werden. Unten liegt erschöpft und geschlagen der grosse islamische Philosoph Averroes (Ibn Rushd), dessen nach unten gekehrtes und somit widerlegtes Buch ebenfalls einen Strahl erhält. Unten sieht man das versammelte Kirchenvolk, unter ihm viele Dominikaner, die ebenfalls erleuchtet werden.

Wenn je intellektuelle Geschichte als Geschichte von Einflüssen zwischen Texten abgebildet worden ist, dann hier. Auch Jesus hält ein Buch. Aber bei ihm entspringt der Strahl dem Mund, das heisst: dem gesprochenen Wort, der wörtlichen Offenbarung. Der Rest ist ein Dialog zwischen Texten.

Der Platz des Ketzers

Dass auch Averroes auf dem Bild dargestellt ist, verdient besondere Beachtung. An der Universität von Paris hatten in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts die an der Artistenfakultät lehrenden Philosophen die Theologen dadurch erschreckt, dass sie gewisse von Averroes weiterentwickelte aristotelische Thesen verteidigten, die dem christlichen Glauben zuwiderliefen. Der örtliche Bischof liess solche Thesen zweimal verurteilen, wobei die Liste 1277 Thesen enthält, die gemeinhin Thomas von Aquin zugeschrieben wurden.

Was später Thomismus heissen sollte, war also nicht von Anfang an erfolgreich. Vielmehr fanden verschiedene Kritiker, inklusive der in Paris lehrenden Gelehrten, Thomas habe sich zu sehr von der heidnischen Philosophie des Aristoteles vereinnahmen lassen. Für die Philosophen war Aristoteles schlichtweg «der Philosoph» und sein islamischer Interpret Averroes «der Kommentator». Aber die Theologen konnten unmöglich zwei Ungläubige als Hauptquellen des Denkens anerkennen. Dass sich die Scholastik schliesslich dennoch Aristoteles zuwenden sollte, war keine Selbstverständlichkeit, sondern ist zu einem grossen Teil der Lobbyarbeit der Dominikaner zu verdanken.

Ganz einfach war diese Arbeit nicht. Man musste die beiden Philosophen auseinanderdividieren. Aristoteles durfte man als wichtige Quelle für Thomas anerkennen, doch Averroes musste nicht bloss auf Abstand gehalten werden, nein Thomas musste zu seiner Antithese werden. Und so erhielt er auf dem Bild den Platz, den traditionellerweise Ketzer einnehmen: als Gewürm unter den Füssen der Orthodoxie.

Thomas von Aquin war von einer enormen Schaffenskraft. Acht Millionen Wörter soll er in seinem knapp fünfzigjährigen Leben geschrieben und diktiert haben. In den nach seinem Tod entstandenen Biografien – die eigentlich Heiligenlegenden sind – wird berichtet, dass er gleichzeitig vier Sekretären diktieren konnte. Sogar im Schlaf habe er diktiert. Das meiste ist natürlich Übertreibung. Aber wenn man sieht, wie viel er neben der Arbeit als Dozent, Institutsgründer, Administrator, Berater und Mönch zu Papier gebracht hat, wird man nicht alle Berichte ins Reich der Fabeln verbannen. Sein Werk ist jedenfalls so umfangreich, dass man die beinahe ein Jahrhundert lang dominante Richtung der katholischen Philosophie, den Neuthomismus, damit speisen konnte.

Christoph Lüthy lehrt Philosophiegeschichte an der Radboud-Universität in Nijmegen.

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