Dienstag, November 19

Nach Jahren der Umbrüche und einem weiteren Milliardenverlust sieht sich der deutsche Industriekonzern vor einem «Jahr der Entscheidungen». Dabei geht es um die Zukunft der Stahl- und der Marinesparte.

«Wir wollen das Unternehmen wieder zu dem machen, was es über Jahrzehnte war: eine Ikone der deutschen Industrie, ein Technologiekonzern von Weltrang und ein Sinnbild für deutschen Erfindergeist»: Mit diesen Worten hat Miguel López, seit Juni 2023 Vorstandsvorsitzender von ThyssenKrupp, am Dienstag an der Jahrespressekonferenz seine Mission umrissen. Solche Ziele formuliert der traditionsreiche Konzern, dessen Wurzeln in der Schwerindustrie des Ruhrgebiets bis ins Jahr 1811 zurückreichen, allerdings schon seit Jahren – und bis anhin eher glücklos.

Erneuter Milliardenverlust

Der Mischkonzern mit Sitz in Essen ist ähnlich wie Volkswagen zu einem Symbol der deutschen Industriekrise geworden. Er hat zahlreiche Anläufe der Restrukturierung, Verkäufe von Konzernteilen wie dem Aufzugsgeschäft und mehrere Führungswechsel hinter sich. Gegenwärtig kommt zu den anhaltenden strukturellen Herausforderungen wie den hohen deutschen Lohn-, Energie- und Steuerkosten, der Konkurrenz aus China und der Umstellung der CO2-intensiven Stahlherstellung auf klimafreundlichere Verfahren konjunktureller Gegenwind hinzu.

Im Geschäftsjahr 2023/24 (per Ende September) litt ThyssenKrupp unter einer deutlich schwächeren Nachfrage aus wichtigen Kundenindustrien wie der Automobilindustrie, dem Maschinenbau und der Bauwirtschaft. Der Umsatz sank um 7 Prozent auf 35 Milliarden Euro, der Betriebsgewinn (bereinigter Ebit) um 19 Prozent auf 567 Millionen Euro.

Unter dem Strich schrieb der Konzern vor allem wegen hoher Abschreibungen auf Anlagen der Stahltochter Steel Europe einen massiven Verlust von 1,5 Milliarden Euro (nach Anteilen Dritter). Im Vorjahr hatte das Minus gar 2,1 Milliarden Euro betragen. Um die Aktionäre bei Laune zu halten, will ThyssenKrupp unter Verweis auf den positiven freien Cashflow gleichwohl eine unveränderte Dividende von 15 Cent je Aktie auszahlen.

Ringen um den Stahl

Im laufenden Geschäftsjahr will ThyssenKrupp dank weiteren Kostensenkungen wieder schwarze Zahlen schreiben. Mit Blick auf die strategischen Leitthemen sei 2024/25 ein «Jahr der Entscheidungen», erklärte López vor den Medien.

Dabei geht es um zwei der insgesamt fünf Geschäftsbereiche, die als eigenständige Unternehmen aufgestellt werden sollen: den Stahlproduzenten ThyssenKrupp Steel Europe (TKSE) und die Marinesparte ThyssenKrupp Marine Systems (TKMS), die unter anderem U-Boote und Fregatten herstellt. Das restliche Geschäft des Konzerns mit knapp 100 000 Mitarbeitern verteilt sich auf Automotive Technology (Zulieferer für die Autoindustrie), Decarbon Technologies (Anlagen für die Dekarbonisierung der Industrie) und Material Services (Werkstoffhändler und -dienstleister).

Für Steel Europe mit seinen rund 27 000 Mitarbeitern peilt ThyssenKrupp weiterhin die Bildung eines je hälftig kontrollierten Gemeinschaftsunternehmens mit der vom tschechischen Milliardär Daniel Kretinsky kontrollierten EP Corporate Group (EPCG) an. Letztere hält unter anderem Beteiligungen im Energiebereich. Ihr Einstieg kombiniere das führende Werkstoff-Know-how von ThyssenKrupp mit der Energie-Expertise eines führenden europäischen Energieunternehmens, sagte López am Dienstag. Gemeinsam werde man die Wettbewerbsfähigkeit von ThyssenKrupp Steel deutlich verbessern.

Als ersten Schritt hat der Aufsichtsrat im Mai gegen den Willen der Arbeitnehmervertreter die Übernahme von 20 Prozent von TKSE durch EPCG gebilligt; Ende Juli wurde die Transaktion abgeschlossen. Grundlage für die Aufstockung auf 50 Prozent sei nun «ein tragfähiger und finanzierbarer Businessplan, den der Vorstand des Stahlsegments derzeit erarbeitet», hiess es am Dienstag.

Teure Dekarbonisierung

Genau darüber ist indessen in den letzten Monaten ein erbitterter Streit zwischen López und der Führung der Stahltochter entbrannt. Dieser mündete Ende August darin, dass drei Vorstände und vier Aufsichtsräte von TKSE ausschieden bzw. ihren Rücktritt angekündigt haben, unter ihnen der Vorstandschef Bernhard Osburg und der Aufsichtsratschef Sigmar Gabriel, ehemaliger deutscher Vizekanzler und SPD-Chef.

Die Aufgabe ist dadurch nicht einfacher geworden, denn das unter Überkapazitäten und Billigkonkurrenz aus China leidende Stahlgeschäft hat viel Restrukturierungs- und Investitionsbedarf. Zu Letzterem trägt auch die von der Politik und vom Unternehmen angestrebte Dekarbonisierung bei. Am Standort Duisburg von TKSE soll eine zunächst mit Erdgas und später mit grünem Wasserstoff betriebene Direktreduktionsanlage entstehen. Solche Anlagen können die traditionellen, mit Kohle oder Koks betriebenen Hochöfen ablösen.

2023 hatten der Bund und das Bundesland Nordrhein-Westfalen hierfür Subventionen von bis zu 2 Milliarden Euro zugesagt. Die Eigeninvestitionen von ThyssenKrupp wurden damals mit knapp einer Milliarde Euro angegeben. Inzwischen habe sich gezeigt, dass die Anlage «womöglich teurer» werde als zunächst erwartet, sagte López indessen am Dienstag. Die Politik forderte er auf, deutlich schneller zu werden beim Aufbau eines Wasserstoff-Pipeline-Netzes in Europa.

Rückzug von Carlyle

Ins Stocken geraten ist auch die Verselbständigung der Marinesparte TKMS. Ihr werden angesichts der geostrategischen Lage neue Wachstumschancen zugetraut, die als eigenständiges Unternehmen besser zu nutzen und zu finanzieren wären. Doch im Oktober hat sich der amerikanische Finanzinvestor Carlyle aus einem Bieterprozess für eine Mehrheitsbeteiligung an TKMS zurückgezogen.

López bedauerte das am Dienstag und betonte, es sei nicht betriebswirtschaftlich begründet und habe nichts mit der finanziellen Leistungsfähigkeit des Marinegeschäfts zu tun. Ausschlaggebend gewesen sein soll laut Medienberichten das anhaltende Zögern des Wirtschaftsministeriums, ob nicht eine deutsche Lösung für das Rüstungsunternehmen zu bevorzugen sei.

Als Alternative prüft ThyssenKrupp nun zuvorderst eine Spin-off-Lösung, also eine Abtrennung von TKMS über die Börse. Man bleibe aber weiterhin auch offen für industrielle Partnerschaften, zudem führe man Gespräche mit der Bundesregierung über eine (Minderheits-)Beteiligung des Staates, hiess es am Dienstag.

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