Dienstag, Januar 7

Ein Opossum, das sich tot stellt, oder Schimpansen, die sich umarmen und um einen Artgenossen trauern: Die Belege häufen sich, dass ein Verständnis vom Tod doch keine rein menschliche Eigenschaft ist.

Carson ist tot, wieder einmal. Zusammengerollt liegt er in seinem Häuschen, das aussieht wie ein Sarg, das Maul aufgerissenen, die Augen starr, seine Zunge hängt heraus, sie ist schon blau. Bereits zum vierten Mal ist er heute gestorben, so steht es zumindest auf dem kleinen Grabstein aus Plastik in seinem Käfig.

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Carson lebt damals, im vergangenen Mai, in einer Auffangstation für Wildtiere. Wie jedes Opossum gaukelt er seinen Tod vor, wenn er um sein Leben fürchtet. Auch Meerschweinchen und Kaninchen, sogar Schlangen und Haie tun das. Keine Art aber spielt den Tod so überzeugend wie das Opossum. Es kippt auf die Seite, rollt sich ein und atmet unmerklich, der Speichel tropft, Urin, Kot und grüner Schleim dringen aus. Allein Carsons Videos haben Millionen von Klicks.

Ist Carson bewusst, was der Tod ist und wie man ihn vortäuscht? Oder folgt er nur seinem Instinkt? Lange glaubten Wissenschafter, dass Tiere den Tod schon allein deshalb nicht verstehen, weil sie nicht denken könnten. Heute zweifelt kaum noch jemand an ihrem grundsätzlichen Denkvermögen. Aber reicht dieses aus, um etwa zu begreifen, dass nicht wiederkommt, wer einmal stirbt?

Wenn ja, würde sich wohl so manche Frage neu stellen – etwa, ob wir Menschen wirklich so einzigartig sind, wie wir uns gerne sehen. Und ob wir Tiere wirklich so behandeln sollten, wie wir es oft tun – im Labor, in den Ställen, auf dem Speiseplan.

Die Frage, was Tiere vom Tod verstehen, ist inzwischen eine Wissenschaft für sich. Zwar fragte sich schon Charles Darwin im 19. Jahrhundert, «was Kühe fühlen, wenn sie einen sterbenden oder toten Gefährten umringen und ihn aufmerksam anstarren». Die vergleichende Thanatologie, wie das Forschungsfeld vom Tod und vom Sterben heisst, entstand jedoch erst, nachdem im Jahr 2009 ein Foto aus einem Auffanglager für Schimpansen im Kamerun um die Welt gegangen war.

Wie Fussballer, die einander während der Hymne ihre Arme um die Schulter legen, stehen sechzehn Schimpansen am Zaun und schauen zu, wie ein Tierpfleger einen toten Artgenossen in einer Schubkarre wegfährt. Die Szene löste eine Welle des Mitgefühls und der Neugierde aus: Was fühlten die Affen in dem Moment?

Das Mitgefühl ist aber nicht nur der Ursprung der Disziplin, sondern zugleich ein ernstes Problem. Denn auch wenn sich die Forscher dem zu widersetzen versuchen, macht es sie für Fehlinterpretationen anfällig – dafür, dass sie die Tiere nicht so sehen, wie sie sind, sondern das Menschliche, das wir alle uns in ihnen erhoffen.

Ein nüchterner Blick ist aber umso dringlicher, als die Disziplin auf anekdotische Evidenz angewiesen ist – Vorfälle wie jenen der Schimpansen in Kamerun, die zufällig beobachtet wurden.

Vorsicht vor voreiligen Schlüssen

Auch die spanische Philosophin Susana Monsó, die zum Fühlen und Denken von Tieren forscht und nun mit «Playing Possum» ein vielbesprochenes Buch geschrieben hat, warnt vor voreiligen Schlüssen: Nur weil wir zu wissen glauben, was Tiere fühlen, bedeutet das nicht, dass wir auch nur eine Ahnung davon haben.

Wenn etwa eine Ameise im Sand verschüttet ist, graben ihre Artgenossen nach ihr, um sie zu retten. Können sie sie nur noch tot bergen, tragen sie ihren Körper sofort aus der Kolonie. Die Ameisen reagieren, als würden sie sowohl die Gefahr als auch die Folgen des Todes verstehen. Tatsächlich aber gehorchen sie nur ihren Instinkten.

Erst nehmen sie über Vibrationen wahr, wie die Ameise mit ihren Beinen an ihrem Körper kratzt und so um Hilfe ruft, später riechen sie von dem Kadaver abgegebene Duftstoffe. Wenn man eine lebende Ameise mit diesen Chemikalien betupft, wie es der Biologe Edward Wilson in den fünfziger Jahren getan hat, wird sie von den anderen Ameisen selbst dann aus der Kolonie getragen, wenn der vermeintliche Kadaver wild mit den Fühlern wedelt. Vom Tod verstehen sie wenig.

Lesen wir von dem Makaken-Weibchen namens Evalyne, das ihr totes Baby siebzehn Tage lang überall hintrug, es putzte und ihm einmal ihre Finger in seinen Mund legte, als ob sie den Saugreflex anregen wollte, denken wir schnell an eine zärtliche, bitterlich trauernde Mutter. Hören wir von einem Hund, der seinem verstorbenen Herrchen das Gesicht abbeisst, halten wir ihn für eine Bestie.

Beide Schlussfolgerungen, mahnt Monsó, sind nicht unbedingt richtig. Evalyne, die ihr Baby auch achtlos gegen Felsen und Bäume prallen liess und schliesslich frass, war sich vielleicht nicht sicher, ob es tot war. Und der Hund wollte sein Herrchen wahrscheinlich nur zu einer Reaktion bewegen. Hätte er es fressen wollen, hätte er ihm wohl in den Bauch gebissen – so wie das Strassenhunde tun.

Zwar legen auch Experimente wie das moralisch höchst zweifelhafte aus den 1960er Jahren, bei dem Forscher Makaken-Weibchen ihre Jungen wegnahmen und manche daraufhin sogar starben, nahe, dass Affen durchaus um ihre Kinder trauern. Monsó mahnt aber, dass die blosse Beobachtung wenig darüber aussagt, was Tiere denken und fühlen.

Ebenso wenig, wie wir den Tieren vorschnell menschliche Eigenschaften zuschreiben sollten, sollten wir sie ihnen zwanghaft absprechen, plädiert Monsó. Oft seien diese Eigenschaften gar nicht nur menschlich, sondern genauso gut tierisch, nur haben wir sie – und damit auch uns – fälschlicherweise für einzigartig gehalten. Anders als wir lange dachten, können Tiere etwa auch kommunizieren und Werkzeuge benutzen – und vielleicht sogar den Tod begreifen. «Ein Tier wird nie wissen, was es heisst zu sterben», schrieb Rousseau. Monsó bezweifelt das, genauso wie die Aussage, dass der Mensch das so genau wüsste.

Vielleicht trauert die Elefantendame, die wie eine Witwe immer wieder an den Ort zurückkehrt, an dem ihr engster Gefährte gestorben ist. Vielleicht stützen die verfeindeten Schimpansen, die sich annähern, einander, nachdem sie beide ihr Baby verloren haben. Vielleicht halten die Jungtiere, die sich nach dem Tod ihrer Mutter erst weigern zu fressen und sich dann an den Ort zum Sterben legen, an dem sie ihren Körper letztmals gesehen haben, den Schmerz einfach nicht aus. Vielleicht ist es, wie es uns scheint. Vielleicht ist es aber auch ganz anders.

Es braucht kein Denken über die Zukunft

Auch wenn wir uns noch dieselben Fragen stellen wie Darwin, häufen sich die Belege dafür, dass ein Verständnis vom Tod eben doch keine rein menschliche Eigenschaft ist. So legen Experimente an Ratten nahe, dass sie durchaus etwas davon verstehen. Anders als Ameisen tragen sie den Körper einer lebenden Ratte, die mit Fäulniswasser beträufelt wurde, nur dann weg, wenn diese ebenfalls betäubt ist und sich nicht mehr regt. Sie begreifen also, dass der Tod mit dem Verlust an Fähigkeiten einhergeht und nicht tot sein kann, wer sich normal bewegt.

Allerdings zweifeln viele Wissenschafter daran, dass Ratten auch die zweite zentrale Eigenschaft des Todes verstehen, seine Unumkehrbarkeit, da dieses Verständnis ein ausgeklügeltes Denken über die Zukunft voraussetze. Monsó glaubt jedoch, dass dies gar nicht nötig sei. Um zu wissen, dass ein totes Lebewesen nicht wieder lebendig wird, müssten sie ein lebendes Lebewesen nur in ein totes umklassifizieren können.

Laut Monsó deuten Tiere immer wieder an, dass sie die Unumkehrbarkeit verstehen. Als im Jahr 2018 ein Schimpanse in Uganda ein Albinobaby zur Welt brachte, schrien seine Artgenossen, als wäre ihr Leben in Gefahr. Doch nachdem das Alphamännchen es erschlagen hatte, schnupperten die Schimpansen neugierig an ihm und streichelten es – als wüssten sie, dass es nie mehr erwachen würde.

Den Beweis, dass Tiere etwas vom Tod verstehen, sieht Monsó aber darin, dass sich Arten wie das Opossum überhaupt tot stellen können. Würden sie das tun, wenn ihre Fressfeinde nicht wüssten, was es bedeutete? Ginge es ihnen nur darum, nicht entdeckt zu werden, könnten sie einfach erstarren. Versuchten sie ihre Angreifer einfach wegzuekeln, könnten sie einfach ihren fauligen Schleim absondern. Ihr Schauspiel könnten sie sich sparen.

Sie aber senkten ihre Herzfrequenz und ihre Körpertemperatur nicht, schreibt Monsó, um eklig zu erscheinen, sondern tot, erkennbar und unwiderruflich tot. Und der einzige Grund dafür ist ihrer Meinung nach, dass zumindest einer ihrer Feinde – etwa die Kojoten – den Tod versteht. Da sich aber viele und ganz verschiedene Arten tot zu stellen vermögen, müsse das Konzept des Todes im Tierreich weit verbreitet sein.

Ob Carson nun versteht, was er da tut, oder eben doch nicht – für den Ernstfall scheint er gewappnet. Als die Wildtierschützer im vergangenen Sommer im Wald die Klappe des Käfigs aufmachen, um ihn und zwei Artgenossen freizulassen, verschwinden die anderen zwei schnell im Gestrüpp. Carson aber stirbt erst einmal.

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