Donnerstag, April 24

Der US-Kongress stimmt für einen Zwangsverkauf des amerikanischen Geschäfts von Tiktok. Aber wollen die Chinesen überhaupt verkaufen? Und was bedeutet das für die Influencer? Die wichtigsten Antworten.

Ist Tiktok eine chinesische Propagandawaffe? Ja, findet der amerikanische Kongress. Nachdem das Repräsentantenhaus bereits am Wochenende für einen Zwangsverkauf von Tiktok in den USA gestimmt hatte, war am Dienstag (Ortszeit) der Senat dran: Mit 79 zu 18 Stimmen stimmte auch er für die Gesetzesvorlage. Damit diese in Kraft tritt, muss sie von Präsident Joe Biden unterzeichnet werden. Dieser hat bereits angekündigt, das Gesetz am Mittwoch zu genehmigen.

Die Amerikaner stellen der chinesischen Tiktok-Eigentümerin Bytedance mit dem Gesetz ein Ultimatum: Entweder sie verkauft das Amerika-Geschäft an ein amerikanisches Unternehmen, oder Tiktok wird aus den App-Stores von Apple und Google verbannt.

Neun Monate hat Bytedance Zeit, einen Käufer zu finden. Doch worum geht es bei dem Gesetz genau? Und wem könnte Tiktok in Zukunft gehören? Ein Überblick:

Warum befasst sich die amerikanische Regierung überhaupt mit Tiktok?

Tiktok hat in den vergangenen Jahren grosse Teile der Welt mit seinen Kurzvideos erobert, die App ist besonders bei jüngeren Generationen beliebt. Doch in den USA wird sie als Sicherheitsrisiko betrachtet. Republikaner wie Demokraten werfen Bytedance vor, der Regierung in Peking Nutzerdaten zur Verfügung zu stellen. Dadurch könne China die amerikanischen Bürgerinnen und Bürger ausspionieren. Die US-Regierung befürchtet zudem, dass China die App zu Propagandazwecken missbrauchen könnte.

Aus diesem Grund hat sie einen Gesetzesentwurf ausgearbeitet, der ein Verbot von Tiktok vorsieht, sollte es nicht zu einem Eigentümerwechsel kommen. Mitte März hatte das Repräsentantenhaus bereits für diesen Entwurf gestimmt, doch erst diese Woche kam er auch durch den Senat – im Bündel mit einer rund 95 Milliarden Dollar schweren Militärhilfe für die Ukraine, Israel und Taiwan.

Wem gehören Tiktok und sein Mutterkonzern Bytedance?

Tiktok ist auf den ersten Blick ein amerikanisches Unternehmen, mit Hauptsitzen in Kalifornien und Singapur. Die App kann man in China gar nicht herunterladen; dort gibt es nur die Schwester-App Douyin, die eng mit den chinesischen Behörden zusammenarbeitet. Über eine verschachtelte Eigentümerstruktur gehört Tiktok aber weiterhin Bytedance.

Der Mutterkonzern wiederum wird privat gehalten und ist nicht an der Börse gelistet. Einem US-Kongressausschuss sagte der Tiktok-Chef Shou Chew im März 2023, Bytedance gehöre zu 60 Prozent institutionellen Investoren auf der ganzen Welt. Unter ihnen sollen sich auch namhafte Anleger aus Amerika befinden, etwa Blackrock, General Atlantic oder Sequoia, ein bekannter kalifornischer Wagniskapitalgeber. 20 Prozent gehörten den Bytedance-Gründern, 20 Prozent den Angestellten der Firma.

15 Prozent von Bytedance soll allein die Susquehanna International Group (SIG) halten, die vom amerikanischen Multimilliardär Jeff Yass kontrolliert wird. Hier wird es politisch interessant: Yass ist nämlich einer der wichtigsten Geldgeber für die Republikaner im laufenden Wahljahr. Doch selbst ihm gelang es nicht, die Tiktok-Verkaufsorder aufzuhalten.

Wer könnte das Amerika-Geschäft von Tiktok kaufen – und zu welchem Preis?

Die Tech-Konzerne Meta und Alphabet gelten als die naheliegenden Kandidaten, dürften aber aus Wettbewerbsgründen nicht infrage kommen. Die Regierung von Joe Biden hat wiederholt versucht, diese Unternehmen mithilfe des Kartellrechts daran zu hindern, grösser zu werden.

Bessere Chancen haben da schon Microsoft und allen voran Oracle. Der Softwareanbieter ist seit vier Jahren im Geschäft mit Tiktok; er kümmert sich um die Speicherung der Daten von amerikanischen Nutzern. Doch Oracle hat mehr als 87 Milliarden Dollar Schulden, und es ist fraglich, ob das Unternehmen einen Kauf alleine stemmen könnte.

Vielleicht sieht die Lösung auch ganz anders aus. Der frühere Finanzminister Steven Mnuchin sagte im März, er wolle eine Investorengruppe für den Kauf von Tiktok organisieren. Sein Plan sei es, die App in den USA mit amerikanischer Technologie neu zu programmieren.

Wer auch immer sich für Tiktok interessiert, braucht ein dickes Portemonnaie. Bloomberg schätzt den Wert von Bytedance auf etwa 270 Milliarden Dollar und das amerikanische Geschäft von Tiktok auf etwa 40 bis 50 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Elon Musk zahlte vor zwei Jahren für Twitter 44 Milliarden Dollar.

Der Preis richte sich auch danach, ob Tiktok mit seinem oder ohne seinen Algorithmus verkauft werde, schreibt Dan Ives, Analyst bei Wedbush Securities in New York, auf X. Gemeint ist die firmeneigene Formel, die bestimmt, welche Videos den Nutzern empfohlen werden. Auf diesem Algorithmus basiert der ganze Erfolg von Tiktok.

Wird Bytedance Tiktok einfach so verkaufen?

Der Mutterkonzern Bytedance lehnt einen Verkauf wenig überraschend ab. Sowohl Bytedance als auch Tiktok widersprechen den Anschuldigungen aus den USA. Es gebe keine Beweise dafür, dass der chinesische Staat Zugriff auf die Daten von amerikanischen Bürgern habe.

Der Tiktok-CEO Shou Chew hat erklärt, sich mit rechtlichen Mitteln gegen das Gesetz wehren zu wollen. Das Recht auf freie Meinungsäusserung werde in den USA «mit Füssen getreten», liess Tiktok verlauten.

Auch manche amerikanische Gerichte sind gegen das Gesetz. Sie haben in früheren Plänen für ein Tiktok-Verbot einen Verstoss gegen das First Amendment erkannt, also den ersten Zusatzartikel der Verfassung, der unter anderem die Redefreiheit schützt. Deshalb war ein entsprechendes Vorhaben von Donald Trump im Jahr 2020 gescheitert, und deswegen liegt auch ein aktuelles Gesetz im Staat Montana auf Eis, das Tiktok dort aus den App-Stores verbannen will.

Auch China könnte sich wehren. Es hat 2020, als Antwort auf Trumps Tiktok-Offensive, seine eigenen Exportkontroll-Regeln verschärft. Der chinesische Staat kann Bytedance gestützt auf diese Regeln verbieten, das Amerika-Geschäft von Tiktok zu verkaufen, weil heikle Technologien ins Ausland abwandern könnten. Vor allem die Weitergabe des Kern-Algorithmus von Tiktok könnte in China auf Widerstand stossen.

Die Chinesen haben mehrfach angedeutet, dass sie einem erzwungenen Verkauf von Tiktok nicht tatenlos zusehen würden. Wenn sowohl die Amerikaner als auch China hart bleiben, wird Bytedance Tiktok in den USA einstellen müssen.

Was passiert, wenn Tiktok nicht verkauft wird?

Die Tiktok-App müsste dann aus allen App-Stores entfernt werden. Das würde aber nur neue Downloads verhindern. Mehr als 170 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner haben Tiktok bereits auf ihren Smartphones installiert. Wie diese daran gehindert werden sollen, Tiktok weiter zu nutzen, ist bis jetzt noch unklar.

Wie reagieren andere ausländische Firmen auf ein Tiktok-Verbot?

Europäische Unternehmen dürften sich vom unzimperlichen Vorgehen der Amerikaner kaum direkt bedroht fühlen. Zu speziell ist der Fall Tiktok und zu einzigartig die Auseinandersetzung zwischen China und den USA.

Dennoch führt das geplante Tiktok-Verbot den Wirtschaftsführern erneut vor Augen, wie viel Unterstützung isolationistische Vorhaben in der US-Politik derzeit in beiden Parteien erzielen können. Und wie rasch und einschneidend sich geopolitische Spannungen auf ihr Geschäft auswirken, sollten sie zwischen Hammer (USA) und Amboss (China) geraten. Auch zahlreiche Schweizer Firmen haben solche Erfahrungen schon gemacht: Der Industriekonzern ABB ist etwa in den USA unter Beschuss geraten, weil er einen chinesischen Kranhersteller beliefert, der in den USA viele Häfen ausrüstet.

Was heisst das für die Influencer?

Tiktok bietet heute zahlreichen Influencern ein Auskommen. Manche Superstars haben Dutzende Millionen von Fans und sind mit ihren Kurzvideos schwerreich geworden, andere bedienen eine Nische und schlagen sich mit Werbeeinnahmen gerade so durch.

Sie alle fragen sich: Was tun, wenn nach einem Verkauf oder Verbot von Tiktok in den USA 170 Millionen potenzielle Zuschauer wegfallen würden?

Social Media haben einen starken Netzwerkeffekt: Jeder weitere Nutzer erhöht den Wert der gesamten Plattform, so dass sich der Markt rasch in ein Oligopol verwandelt. Hat Tiktok ohne die USA noch immer ein genügend starkes Netzwerk, um im Rest der Welt die Nummer eins zu bleiben?

Konkurrenten wie Meta (Instagram, Facebook) oder Alphabet (Youtube) haben schon längst versucht, den Erfolg von Tiktok zu kopieren, indem sie auf ihren sozialen Netzwerken mehr Videoinhalte abspielen und ihren Algorithmus verfeinerten. Meta und Alphabet dürften daher am stärksten von einem Tiktok-Verbot profitieren. Die Plattformen würden nicht nur Nutzer dazugewinnen, sondern auch einen Teil der Werbegelder von Tiktok einstreichen.

Es ist denkbar, dass Tiktok ohne amerikanische Nutzer künftig die kritische Masse fehlt und sich wichtige Influencer, aber auch Nutzer aus Europa oder Asien, eine andere Plattform suchen werden.

Was bedeutet das für den Wahlkampf in den USA?

Das Gesetz bringt den amtierenden Präsidenten Joe Biden in ein Dilemma. Zum einen will er einen harten Kurs gegenüber China fahren, zum anderen ist er auf die Wählerstimmen der jungen Generation angewiesen, bei der Tiktok sehr beliebt ist. Seit Februar hat Biden gar einen eigenen Account auf der Plattform. Doch ausgerechnet die Jungen könnte er mit einem Tiktok-Verbot vergraulen: Das überparteiliche Pew Research Center veröffentlichte im vergangenen Dezember eine Studie, wonach nur 38 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner ein Verbot von Tiktok gutheissen würden.

Der republikanische Kandidat Donald Trump hingegen fährt bei Tiktok einen Zickzackkurs. Von seiner früheren Forderung, Tiktok zu verbieten, ist er mittlerweile abgekommen. Trump begründete den Sinneswandel damit, dass ein Verbot dem Konkurrenten Meta zu viel Gewicht gäbe. Er bezeichnete Facebook kürzlich in einem Interview als «Feind des Volkes». Ob Jeff Yass, der den republikanischen Wahlkampf stark unterstützt, einen Einfluss auf diesen Sinneswandel hatte, wird kontrovers diskutiert.

Bytedance erhält nach Annahme des Gesetzes neun Monate Zeit für einen Verkauf; Präsident Biden kann diese Gnadenfrist noch um drei Monate verlängern. Das heisst: Das Tiktok-Verbot würde in die ersten Wochen oder Monate der neuen US-Regierung fallen. Sollte Donald Trump tatsächlich wieder amerikanischer Präsident werden, könnte er das Tiktok-Verbot allenfalls als Verhandlungspfand für einen «Deal» mit China einsetzen.

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