Dienstag, Januar 14

Die psychischen Probleme der Jugendlichen wachsen seit Jahren. Was es jetzt braucht, um sie wirksam zu bekämpfen.

Eine Akutstation für Jugendliche, an einem ganz normalen Mittwoch. Ein suizidales Mädchen, 14, tritt ein. Ein Heimkind, 13, bricht aus. Ein handysüchtiger Junge malt ein Mandala. Ein anderer – Drogen, Gewalt, Lehrabbruch – macht ein Arbeitsblatt zu Achtsamkeit.

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Im Stationszimmer liegt ein Haschisch-Klumpen, bei der jugendlichen Ausbrecherin gefunden. Eine lange Liste, täglich neu, mit beschlagnahmten Rasierklingen hängt an der Wand. Und dann ist da noch die selbstgehäkelte Schlinge, mit der sich eine Jugendliche das Leben nehmen wollte.

Es sind Artefakte einer Jugend in der Krise. Einer Krise, die seit Jahren andauert. Die niemand bestreiten kann und alle bekämpfen wollen. Und die sich doch hartnäckig hält.

Das Problem in einer Zahl: 6051. So viele unter 25-Jährige wurden vergangenes Jahr in der Schweiz psychiatrisch hospitalisiert, fast 2000 mehr als noch zehn Jahre zuvor. Bei den jungen Frauen ist das Wachstum am stärksten: plus 55 Prozent, ein Vielfaches des Bevölkerungswachstums. Auch die IV-Neurenten wegen psychischer Probleme steigen – bei den 18- bis 24-Jährigen stärker als bei jeder anderen Altersgruppe.

Die steigenden Hospitalisationen sind dabei nur die Spitze des Eisbergs. In der letzten Gesundheitsbefragung des Bundesamts für Statistik gab von den 15- bis 25-Jährigen jeder und jede Zehnte an, sich in psychiatrischer Behandlung zu befinden – doppelt so viele wie noch fünf Jahre zuvor. Jede dritte junge Frau berichtete von psychischen Problemen. In den Stadtzürcher Sekundarschulen weist gemäss einer anderen Befragung ein Drittel der Mädchen Anzeichen für Angststörungen oder Depressionen auf.

Kurz: Vielen Jugendlichen geht es schlecht, den Mädchen tendenziell noch schlechter. Und warum das so ist, weiss niemand so genau.

Schule, Familie, Tech-Giganten – wer ist schuld?

Theorien gibt es viele. Ist das Smartphone an allem schuld? Treiben die Algorithmen die Jungen in die Verzweiflung? Oder ist es die Familie, die versagt, weil sie ihre Schwächsten immer weniger auffangen kann? Der Zeitgeist – Kriege, Krisen, Pandemien – wird ebenso als Erklärung genannt wie die pädagogische Tendenz zur Überbehütung, zur Pathologisierung jeder Verhaltensauffälligkeit.

Seit Jahren dreht sich die Diskussion um diese und andere Erklärungsmuster. Zu einem eindeutigen Resultat ist sie dabei nicht gekommen. Denn einfache Antworten, klare Schuldige gibt es bei diesem Thema nicht.

Schule, Familie, Tech-Giganten: Alle tragen wohl eine Mitverantwortung für den psychischen Zustand der Schweizer Jugend. Wenn es um ihre Krise geht, greifen monokausale Erklärungen zu kurz. Stattdessen ist etwas anderes gefragt: Demut. Und eine Politik der vielen kleinen Schritte.

An einer solchen arbeitet sich gerade der Kanton Zürich ab. Die Plätze in der Notfallversorgung hat er in den letzten Jahren schon ausgebaut und damit eine seit langem beklagte Unterversorgung behoben. Das reicht jedoch nicht. Stationäre Behandlungen in der Jugendpsychiatrie fangen den psychischen Kollaps auf – das Ziel muss es aber sein, ihn möglichst zu verhindern.

Das ist zentral, damit das Problem nicht verwaltet, sondern gelöst wird. Und es ist auch mit Blick auf die Gesundheitskosten dringend nötig. Dort muss das Ziel sein, schwere Krisen – und damit teure stationäre Aufenthalte – durch gezielte Investitionen in präventive Angebote frühzeitig zu verhindern.

Wichtig ist dabei insbesondere eine Stärkung des ambulanten Bereichs – also etwa die wöchentliche Sitzung beim Kinderpsychiater. Dort beträgt die Wartezeit für einen Therapieplatz schweizweit zwischen drei Monaten und einem Jahr. Ein unhaltbarer Zustand, der auch zum Anstieg der Hospitalisationen beiträgt. Denn wer lange auf niederschwellige Hilfe warten muss, schlittert eher in eine tiefe Krise, die einen einschneidenden – und teuren – Klinikaufenthalt nach sich zieht.

Die langen Wartezeiten haben wiederum mit einem Mangel an Fachleuten zu tun. Die Kinderpsychiatrie ist ein überalterter Berufsstand, der innerhalb der Ärzteschaft punkto Prestige und Entlöhnung unverständlicherweise weit unten steht. Der durchschnittliche Zürcher Kinderpsychiater, die durchschnittliche Psychiaterin ist rund 60 Jahre alt.

Kanton lässt Entscheidendes aus

Dass es so nicht weitergehen kann – darüber sind sich in Zürich alle Parteien einig. Das zeigte sich vergangenes Jahr, als das Kantonsparlament die Volksinitiative «Gesunde Jugend jetzt» der Jungen Mitte einstimmig für angenommen erklärte – ein präzedenzloser Schritt.

Und ein dringend nötiger. Nun, bei der Umsetzung der Initiative, braucht es aber kein Geldverteilen mit der Giesskanne. Die Vorschläge der Regierung gehen hier an sich in die richtige Richtung: mehr Prävention, mehr Gruppentherapien, eine schnellere Überweisung an Psychologen und eine Online-Plattform zur effizienteren Verteilung von Patienten.

Auch eine Idee der Initianten – die Förderung der Weiterbildung von Jugendpsychologinnen und -psychologen – ist durchaus sinnvoll.

Dennoch lassen all diese Vorschläge auch Entscheidendes aus. Erstens: die Ausbildung. Dort fristet die Psychiatrie noch zu oft ein isoliertes Randdasein. Passende Kandidaten schaffen es nicht bis in den Beruf. Abhilfe würde neben inhaltlichen Reformen ein Numerus clausus schaffen, der neben Fleiss und Intelligenz auch soziale Fähigkeiten belohnte.

Zweitens: ökonomische Fehlanreize. Im heutigen Tarifsystem lohnt sich die Behandlung von Patientinnen und Patienten mit weniger gravierenden Leiden am meisten. Die Folge: Sie bleiben lange in Therapie und besetzen Plätze, die Notfälle dringender brauchten. Das trägt zur Verstopfung des Systems bei. Es ist ein Problem, das auch bei den Krankenkassen, also auf Bundesebene, zu lösen wäre.

Drittens: mangelhafte Angebote im vorpsychiatrischen Bereich. Eine kleine Gruppe von Jugendlichen bindet in Psychiatrien einen massiven Anteil der Ressourcen. Viele entsprechen demselben Profil: Sie haben kein stabiles Zuhause und wären in einem Jugendheim besser aufgehoben. Dort herrscht jedoch ein Mangel an langfristigen Plätzen für genau solche Jugendliche.

Ein gezielter Ausbau würde Druck von den Psychiatrien nehmen und ihre aufwendigste Klientel in einem sinnvolleren und günstigeren Setting auffangen. Sinnvoll wäre auch eine Aufnahmepflicht, wie sie in Heimen (anders als in Psychiatrien) momentan noch fehlt.

Nicht jeder Liebeskummer ist eine Krankheit

Schliesslich muss man auch beim beliebtesten Mittel der Gesundheitsapostel – der Prävention – genau hinschauen. Immer kompliziertere Konzepte, immer mehr Verwaltungsaufwand führen hier nicht zum Ziel. Echte Prävention muss im Kleinen beginnen: im Quartier, in der Schule, im Freundeskreis.

Denn auch wenn jeder Franken so wirken würde wie bezweckt: Mit Geld und Gesetzen allein lässt sich die Krise der Jugend nicht lösen.

Nichts führt an der Verantwortung vorbei, die jeder und jede Einzelne dafür trägt, dass Jugendliche im Alltag nicht alleingelassen werden. Dass psychische Probleme keine Schande sind, Scheitern dazugehört und eine Therapie nichts Verwerfliches ist: Das ist etwas, was man nicht verordnen kann, sondern vorleben muss.

Zentral ist dabei aber die Botschaft, dass nicht jeder Liebeskummer, jede Trauer, jeder Seelenschmerz ein Anzeichen für eine psychische Erkrankung ist. Eine Tendenz zur Pathologisierung von Alltäglichem beobachten viele Jugendpsychiater. Sie führt zur Verschwendung rarer Ressourcen – und droht jene Jugendlichen unsichtbar zu machen, die wirklich Hilfe brauchen.

Wenn es um die unnötige Verstärkung psychischer Krisen geht, sind schliesslich auch Unternehmen wie Tiktok in der Pflicht. Die bei Jugendlichen beliebte Video-App wird von gut einem Viertel der Schweizer Bevölkerung genutzt. Bei Inhalten, die Suizid und Selbstverletzung propagieren, versagen ihre Filter jedoch komplett.

Wer das nicht glaubt, kann sich selbst ein Konto einrichten, sein Alter auf 13 stellen, ein bisschen zu lange bei traurigen Videos hängen bleiben – und dann beobachten, wie vernarbte Unterarme, die Suizid-Challenges und die Fotos von Abschiedsbriefen auftauchen. All das, wohlgemerkt, ohne dass man explizit nach solchen Themen suchen oder entsprechenden Accounts folgen muss.

Hier bekommen Sie Hilfe:

Wenn Sie selbst Suizid-Gedanken haben oder jemanden kennen, der Unterstützung benötigt, wenden Sie sich bitte an die Berater der Dargebotenen Hand. Sie können diese vertraulich und rund um die Uhr telefonisch unter der Nummer 143 erreichen. Spezielle Hilfe für Kinder und Jugendliche gibt es unter der Nummer 147.

In den Zürcher Jugendpsychiatrien kennt man die neusten Tiktok-Trends gut – weil sie sich in den dortigen Suizidversuchen spiegeln. Dass die App entsprechende Inhalte für Minderjährige nicht konsequent sperrt, ist stossend.

Kein Glaube an die Zukunft

Bessere, möglichst ambulante Therapieangebote. Reformen bei der Ausbildung und im Heimwesen. Prävention, die in den eigenen vier Wänden beginnt. Und mehr Transparenz und Zurückhaltung bei Tech-Giganten. So vielfältig wie die Probleme der Jugend müssen auch die Gegenmittel sein.

Denn eines ist klar: Die Krise der Jungen ist nicht eingebildet. Und auch ihre Zukunftsängste sind nicht unbegründet. Im letzten Jugendbarometer der Credit Suisse von 2022 sind die meistgenannten Sorgen die Sicherung der Altersvorsorge und die Bekämpfung des Klimawandels.

Drei Jahre später bleiben diese Probleme ungelöst. Nur die Namensgeberin des Barometers, die ist untergegangen. Die Krise der Jugend – sie ist letzten Endes auch eine Krise der Zuversicht, eine des Glaubens an die Zukunft.

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