Montag, Oktober 7

Ein 26-jähriger Syrer soll für den Mordanschlag bei einem Stadtfest in Solingen verantwortlich sein. Sein Motiv ist bislang unbekannt. Aber er passt in das Profil der Attentäter, die sich im Internet radikalisiert haben.

Vor zehn Jahren galten für die deutschen Sicherheitsbehörden noch Moscheen als die wichtigsten Orte möglicher islamischer Radikalisierung. Wenn die Ermittler Glück hatten, konnten dort Informanten eingeschleust werden. Heute ist diese Art der Überwachung nicht mehr zeitgemäss.

Der deutsche Verfassungsschutz spricht bereits von einer Tiktokisierung des Islamismus. Plattformen in den sozialen Netzwerken gelten als Brandbeschleuniger für die Verbreitung von extremistischem Gedankengut. Von Islamismus-Influencern und modernen Hasspredigern ist die Rede.

Oder wie der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul es ausdrückte: «Das Internet wird mehr und mehr zum Hochleistungsmotor für Radikalisierung.» Experten gehen davon aus, dass sich inzwischen fast alle islamistischen Täter im Internet radikalisiert haben. Nicht selten haben Hassprediger auf Tiktok, Telegram oder Instagram Millionen Follower.

Ob sich der mutmassliche Attentäter aus Solingen auch online radikalisiert hat, ist bislang nicht bekannt und Teil der Ermittlungen. Aber er passt in das Profil: Er ist männlich, jung, den Behörden bislang nicht als Extremist aufgefallen und offenbar Einzeltäter. Erst Ende 2022 soll er in Deutschland eingereist sein. Geboren wurde er laut «Spiegel» in der Stadt Deir al-Sor im Osten Syriens, die während des Bürgerkriegs mehrfach von der Terrororganisation Islamischer Staat besetzt wurde.

Am Samstagabend stellte sich der 26-jährige Syrer der Polizei – rund 25 Stunden nach dem entsetzlichen Messeranschlag bei einem Stadtfest, bei dem drei Menschen ums Leben kamen und acht Menschen zum Teil schwer verletzt wurden.

IS bekennt sich zum Messerattentat

Der «Spiegel» berichtet, der Mann heisse Issa al H. und habe in Bielefeld, ebenfalls in Nordrhein-Westfalen, einen Asylantrag gestellt. Weil er aus einem Bürgerkriegsland kam, durfte er in der Bundesrepublik bleiben und bekam sogenannten subsidiären Schutz. Er soll in einer Flüchtlingsunterkunft in Solingen gewohnt haben.

Kurz bevor sich der Syrer der Polizei gestellt hat, veröffentlichte der IS ein Bekennerschreiben, das Experten wie der Terrorismusforscher Peter R. Neumann als echt einstufen. Es kam über die IS-Webseite Amak und ging auch bei der Polizei ein. In dem Schreiben spricht die Terrororganisation von einem «Soldaten», der eine «Gruppe von Christen» angegriffen habe.

Noch unklar ist, ob der IS nur die Tat für sich reklamiert oder ob der Täter auch im Auftrag der Terrororganisation gehandelt hat. Der IS hatte aber genau zu solchen Attacken mit Messern aufgerufen, weil sie vergleichsweise einfach auszuführen sind. In der Regel folgten nach einem Bekennerschreiben weitere Botschaften, etwa ein Video des Täters, sein Name oder Details zu dem Anschlag, erläutert Neumann.

So furchtbar und schockierend der Anschlag in Solingen ist, er überrascht nicht. Auch in Deutschland warnen die Behörden schon lange vor einer zunehmenden Gefahr von Terroranschlägen. «Der Islamismus ist weiter auf dem Vormarsch», mahnte auch Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul. Kinder und Jugendliche würden «per Knopfdruck» mit extremistischen Inhalten auf dem Handy versorgt.

Spirale der Gewalt durch Hasspredigten

In der Tat werden so junge Menschen mit jihadistischen Inhalten infiltriert, die bewusst modern verpackt sind und auf die persönliche Lebenssituation der Jugendlichen abzielen. Wenn Nutzer in den sozialen Netzwerken bestimmte Inhalte mit Wörtern wie beispielsweise Jihad oder Palästina anklicken, überflutet sie der Algorithmus mit immer neuen Nachrichten zu diesem Thema. «Die Betroffenen geraten in eine Spirale, die dazu führt, dass sie früher oder später in eine geschlossene Gruppe geraten», erläutert der Terrorismusexperte Neumann.

Die Behörden tun sich schwer, solchen Hasspredigern Einhalt zu gebieten. Bei einem Verbot weichen diese schnell auf andere Kanäle aus und nehmen ihre Millionen Follower mit. Islamismusforscher wie Susanne Schröter von der Goethe-Universität in Frankfurt sehen aber auch deutliche Versäumnisse, die erst die Etablierung salafistischer und islamistischer Strukturen in Deutschland möglich gemacht hätten. Genauso wichtig wie eine funktionierende Sicherheitsstruktur sei Prävention, argumentiert sie.

In Nordrhein-Westfalen haben die Behörden als erstes und bislang einziges Bundesland im Mai ein Lagebild Extremismus veröffentlicht. Die Erkenntnisse der Behörden lesen sich wie eine Voraussage dessen, was jetzt passiert ist.

Rund 2600 extremistische Salafisten sind in dem Bundesland nachrichtendienstlich bekannt. Davon gehören 2000 dem politischen und 600 dem gewaltorientierten Spektrum an. Hassprediger haben in den vergangenen Jahren – nicht nur in Nordrhein-Westfalen – den grössten Zulauf bekommen, auch weil sie sich bewusst an junge Menschen wenden.

Der Christlichdemokrat Reul mahnte mehrfach, es werde keine einfache und schnelle Lösung dieses Problems geben. Als einer der ersten Landesminister in Deutschland hatte er aber auch auf die deutlich gestiegene Kriminalität durch Ausländer nach der Migrationswelle 2014/2015 hingewiesen.

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