Der ehemalige Botschafter der Schweiz ist auch deutscher Staatsbürger. Auf die Frage, was die Wahlen in Deutschland für die Schweiz bedeuten, sagt er: «Uns Schweizer beschäftigt immer nur die Frage: Hat man uns noch lieb?»
Herr Guldimann, von der Schweiz aus betrachtet, wirkt das politische Klima in Deutschland aggressiv und gehässig. Wie erleben Sie das in Deutschland?
Der Wahlkampf hat die Polarisierung nochmals verstärkt. Nach dem jämmerlichen Streit, an dem die «Ampel» zerbrochen ist, wurde das Klima nochmals rauer.
Welchen Streit meinen Sie?
Am Anfang war die Drei-Parteien-Regierung, bestehend aus SPD, Grünen und FDP, sehr erfolgreich. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 gelang es ihr, eine akute Energiekrise angesichts der gestoppten Gaslieferungen aus Russland abzuwenden. Damals stand es auf Messers Schneide, ob das Land im folgenden Winter in eine massive Rezession mit Massenarbeitslosigkeit fällt. Dieser Erfolg ging aber danach im Streit um das Heizungsgesetz unter, das vom grünen Wirtschaftsminister Habeck lanciert worden war.
Was war das Problem?
In diesem medial zugespitzten Konflikt zeigte sich schon eine laue Unterstützung der beiden andern Koalitionspartner. Der Anfang vom Ende der «Ampel» war dann aber der Entscheid des Bundesverfassungsgerichts im November 2023. Dieses erklärte die geplante Umwidmung von 60 Milliarden Euro, die ursprünglich für die Corona-Hilfe vorgesehen waren, für verfassungswidrig. Das Geld durfte also nicht für die geplante Wende in der Klimapolitik verwendet werden.
Mit welchen politischen Folgen?
Von diesem Moment an eskalierte der Konflikt innerhalb der «Ampel», das Geld für Kompromisse fehlte. Die FDP nutzte dann die Frage der Finanzierung dazu, klammheimlich das Ende der Regierung vorzubereiten. Das Doppelspiel wurde offensichtlich, und im November 2024 warf Bundeskanzler Scholz Finanzminister Christian Lindner aus der Regierung und stellte danach die Vertrauensfrage im Bundestag für vorgezogene Neuwahlen.
Die FDP hat die 5-Prozent-Hürde am Sonntag nicht geschafft, und der Parteichef Lindner beendet seine politische Karriere. Wollen die Deutschen keine liberale Politik mehr, oder wollen sie einfach die FDP nicht mehr?
Der Liberalismus ist in Deutschland nicht tot, jetzt fehlt er aber im Parlament. Deutschland hat mit der FDP der letzten drei Jahre jedoch eine Partei erlebt, die ihr politisches Überleben über das Interesse des Landes gestellt hat. Das hat das Vertrauen der Bevölkerung in die FDP, aber auch generell in die Politik weiter unterwandert.
Am sinkenden Vertrauen in die Politik ist die FDP aber kaum alleine schuld.
Nein, beileibe nicht. Auch die Kehrtwende von Friedrich Merz, der vor kurzem noch versprochen hatte, er werde sich nie im Bundestag auf die AfD abstützen, und der dann zwei Monate später gemeinsam mit der AfD die Flüchtlingspolitik verschärfen wollte, hat nicht geholfen. Dass die CDU statt auf 30 nur auf 28 Wählerprozente kam, kann man auch als Zeichen des Vertrauensverlustes lesen. Profitiert hat die AfD.
In Deutschland wird die AfD gerne mit der SVP verglichen. Wie sehen Sie das?
Das sind zwei verschiedene Parteien. Die SVP schreckt zwar nicht vor fremdenfeindlichen Positionen zurück, sie ist aber nicht rassistisch und auch nicht «gegen die da oben», sie ist Teil des Establishments. Das Wort Lügenpresse habe ich von der SVP noch nie gehört. Die SVP vertritt auch nicht den Geschichtsrevisionismus der AfD. Der AFD-Fraktionschef Alexander Gauland verharmloste den Nationalsozialismus als «Vogelschiss der Geschichte», Björn Höcke forderte eine «erinnerungspolitische Wende um 180 Grad». So etwas bekommen Sie in der SVP nicht zu hören.
Kann sich Deutschland aus der Schweiz etwas über den Umgang mit Rechtsparteien abschauen?
Nein. Wir haben das Korrektiv der direkten Demokratie. Während in Deutschland der demokratische Rechtsstaat, seine Politik, die Öffentlichkeit, die Medien und die Wirtschaft darin gescheitert sind, den Rechtspopulismus kleinzuhalten. Merz hatte vollmundig angekündigt, er werde die AfD halbieren. In den Wahlen hat sie ihren Stimmenanteil gegenüber 2021 verdoppelt und in Ostdeutschland alle Wahlkreise gewonnen. Erst wenn die Politik wieder die Anliegen der Menschen «draussen im Land» löst, besteht Hoffnung.
Dann soll man die AfD wie eine normale Partei behandeln?
Nein. Die AfD ist keine «normale» Partei, sie gefährdet den Rechtsstaat und ist unter Beobachtung des Verfassungsschutzes. Schon länger wird deshalb über ein Parteiverbot diskutiert, ein gefährlicher Vorschlag, weil die Durchführung lange dauert, der AfD propagandistisch in die Hände spielen würde und im Ausgang sehr offen wäre.
Im Moment sieht es so aus, als werde Friedrich Merz eine Regierung aus SPD und CDU bilden. Begrüssen Sie das?
Ja, eine Regierung, die aus zwei Parteien besteht, ist stabiler und weniger streitanfällig als eine, die aus drei Parteien besteht. In der Flüchtlingspolitik etwa werden sich CDU und SPD schneller einigen können, als wenn noch die Grünen mit ihrer moralisch orientierten Basis dabei wären. Auch die Tatsache, dass im Bundestag nur fünf und nicht, wie ich befürchtete, sieben Parteien vertreten sind, dient der Stabilität. Neben der FDP hat das populistische Bündnis Sahra Wagenknecht die Hürde zum Glück nicht geschafft.
Was würde eine CDU-SPD-Regierung für die Wirtschaft bedeuten?
Ohne FDP in der Regierung dürfte die Schuldenbremse reformiert werden. Das gibt endlich Spielraum für dringend notwendige Investitionen in die marode Infrastruktur, die militärische Aufrüstung und Massnahmen gegen den Klimawandel. Die Gefahr ist, dass ohne die Grünen die gefährdeten Arbeitsplätze, zum Beispiel in der Autoindustrie, die durch Trumps angekündigte Zölle bedroht ist, dazu führen, dass Umweltvorschriften gelockert werden. Das grosse Fragezeichen bleibt die Ukraine, wenn Trump nach seinem Verrat die US-Waffenhilfe zurückfährt und Europa einspringen muss. Dafür wie schon im Februar 2022 ein riesiges «Sondervermögen», vulgo Schulden, zu beschliessen, könnte eine Verfassungsänderung verlangen, für die im neuen Bundestag die notwendige Zweidrittelmehrheit schwer zu finden ist.
Deutscher und Schweizer
Tim Guldimann, ehemaliger Botschafter in Deutschland
Guldimann ist ein Schweizer Diplomat und Politiker (SP). Heute ist er auch Podcaster («Debatte zu dritt»). Er hat zusätzlich die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen.
Olaf Scholz schien der Schweiz nicht sonderlich nahezustehen. Bessert sich das etwas unterkühlte Verhältnis zwischen der Schweiz und Deutschland nun?
Uns Schweizer beschäftigt immer nur die Frage: Hat man uns noch lieb? Vielleicht steht Friedrich Merz mit seiner Blackrock-Vergangenheit der Schweiz und ihrer Wirtschaft etwas näher als Scholz. Aber auch der neuen Regierung wird es nicht um Sympathien und Gefühle gehen, sondern um Interessen. Ignazio Cassis hat einmal behauptet, Neutralität und Solidarität seien die beiden Seiten derselben Medaille. Seit dem Ukraine-Krieg ist das übrige Europa aber nicht an der Neutralität, sondern an der Solidarität interessiert, konkret am Mitmachen bei den Russland-Sanktionen. Hier gab es schon Streit um die Freigabe der Wiederausfuhr von Schweizer Munition. Der von der Schweiz aus betriebene Rohstoffhandel könnte als Nächstes noch stärker ins Visier geraten.