Mittwoch, Oktober 9

Fidel Strub überlebte als Kind in Burkina Faso die bakterielle Infektion Noma nur knapp. Mit seinem Engagement hat er die WHO dazu bewegt, den sogenannten Wangenbrand auf die Liste der vernachlässigten Krankheiten zu setzen. Das Magazin «Time» zählt ihn zu den hundert weltweit einflussreichsten Persönlichkeiten im Bereich Gesundheit.

Als Dreijähriger war Fidel Strub bloss noch Haut und Knochen. Die schwere Tropenkrankheit Noma zerfrass seinen Gaumen, seine Wangen, seinen Kiefer. Fieber schüttelte ihn, die Augen brannten, und jeder Herzschlag pochte schmerzhaft im Kopf. Der behandelnde Arzt habe kaum Überlebenschancen gesehen, erzählte Strub am vergangenen Montag während einer Rede beim Magazin «Time» in New York. Trotz Aussichtslosigkeit habe der Arzt um sein Leben gekämpft.

Heute ist es Fidel Strub, der kämpft – für alle Kinder, die auch dreissig Jahre nach ihm noch immer am sogenannten Wangenbrand erkranken. In den seltensten Fällen überleben sie Noma. Falls sie es schaffen, dann nur mit bleibenden Schäden im Gesicht. Auch Fidel Strub trägt diese mit sich.

Das Magazin «Time» zeichnete den Schweizer mit Wurzeln in Burkina Faso zusammen mit der Nigerianerin Mulikat Okanlawon für ihr Engagement gegen die Krankheit aus. Vergangene Woche wurden sie zu zwei der hundert einflussreichsten Persönlichkeiten des Jahres im Bereich Gesundheit gekürt. Gemeinsam hatten sie 2022 die Betroffenenorganisation Elysium gegründet. Auch dank ihrem Einsatz hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im vergangenen Dezember Noma auf die Liste der vernachlässigten Tropenkrankheiten aufgenommen.

Den 33-jährigen Fidel Strub freut, dass seine Nominierung in der Zeitschrift ein Schlaglicht auf die Krankheit wirft. «Aber ich stehe nicht gerne im Mittelpunkt», sagt er gegenüber der NZZ. Die öffentliche Aufmerksamkeit auf seine Person nimmt er nun aber in Kauf: weil sie allen Betroffenen etwas bringe.

90 Prozent schaffen es nicht

Wieso er überlebt habe, das wisse weder er noch die Wissenschaft, sagte Strub während der Gala in New York. Bestimmt war viel Glück dabei. Es ist das Jahr 1994 in Burkina Faso. Seine Grossmutter hört zufällig im Radio einen Aufruf: Man solle Kinder mit Löchern in den Wangen in die Klinik von Dr. Lassara Zala bringen, in den Norden des Landes. Der Beschrieb der Symptome trifft auf ihren Enkel zu. Und er wird zusehends schwächer. Mit dem entstellten und schmerzenden Mund ist es für ihn unmöglich, zu essen. Vorerst fehlt das Geld für die Reise. Aber der Familie gelingt es, Fidel ins Spital zu bringen. Seine Geschichte ist eine der seltenen mit einem guten Ende. 90 Prozent schaffen es nicht.

Täglich sterben vor allem in Afrika weiterhin Kinder an den Folgen dieser bakteriellen Infektion. Jährlich sind es rund 100 000 Opfer. Noma befällt vor allem Zwei- bis Sechsjährige – wenn sie einer Kombination aus Unterernährung, geschwächtem Immunsystem, schlechter Mundhygiene und verschmutztem Trinkwasser ausgesetzt sind. Sie beginnt mit Entzündungen an Zahnfleisch und Gaumen, fährt mit Schwellungen fort, dann zersetzen sich Gewebe und Knochen. Viele Eltern erkennen die Symptome nicht. In den meisten Fällen sind ihre Kinder innerhalb von zwei bis drei Wochen tot, oft durch eine Blutvergiftung.

Dr. Zala und sein Team schafften es, das Wuchern der Krankheit bei Fidel Strub zu stoppen. Dank ihren Kontakten in die Schweiz konnte der Bub nach Genf verlegt werden. Drei Jahre lang dauerte die erste Phase der Behandlung. Zwischen den Spitalaufenthalten lebte er in einem Kinderheim von Terre des Hommes im Wallis. Am Universitätsspital in Genf war oft die Basler Assistenzärztin Kristina Strub zugegen. Die Hals-Nasen-Ohren-Ärztin und ihr Mann adoptierten Fidel schliesslich und nahmen ihn in Arisdorf auf.

27 Operationen

Von 1994 bis 2005 musste er sich 27 Eingriffen unterziehen. Drei Jahre an Sprachtherapie waren nötig, ehe er eine Kerze ausblasen konnte. Inzwischen lebt er in Biel und ist gesund: Er kann wieder gut sprechen, kann schmerzfrei alles essen und auch auf dem rechten Auge sehen – auf der Seite, die stärker betroffen war. Nach einer Lehre in der Uhrenbranche arbeitete er als Berater für Business-Kunden im Telekommunikationsbereich.

Inzwischen ist er Vollzeit beim Bund angestellt und setzt sich daneben im Kampf gegen die Krankheit ein, die sein Leben so stark prägt. Er ist Vorstandsmitglied der Noma-Hilfe Schweiz und gründete mit Mulikat Okanlawon Elysium, die erste Organisation für Noma-Überlebende. Auch sie teilt sein Schicksal und arbeitet in einem nigerianischen Spital.

Die beiden setzen sich mit ihrer Organisation dafür ein, dass die Krankheit mehr Aufmerksamkeit erhält, dass Betroffene langfristig betreut werden, einen Weg zurück ins Leben bekommen – und sie selber ihre Erfahrungen in die Organisation einbringen können. «Alle Entscheidungen werden von Betroffenen für Betroffene gefällt», sagt Strub.

Entscheidend ist, dass Menschen in den Gefahrenzonen der Welt mehr Wissen über diese Krankheit erhalten – und mehr Instrumente, um sie zu bekämpfen. «Noma ist mehr als eine Krankheit, es ist ein sozialer Indikator für extreme Armut und Unterernährung, von denen die schwächsten Bevölkerungsgruppen betroffen sind», sagte der WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus anlässlich der Aufnahme von Noma in die Liste der vernachlässigten Krankheiten.

Neue Mittel, mehr Forschung

Vor allem Kinder in Afrika leiden darunter, aber auch solche in Südamerika und Asien. Sehr selten sind Fälle in Europa. «Das Problem ist vielschichtig», sagt Strub, «es müssen grundlegende Veränderungen passieren: an der Infrastruktur, am Gesundheitssystem.» Bei früher Erkennung der Krankheit kann sie mit Antibiotika geheilt werden. Bei später Hilfe überleben nur rund 10 Prozent. Sie benötigen aufwendige Eingriffe für den Wiederaufbau des Gesichts, müssen das Essen und das Sprechen neu lernen.

Mit ihrem Einsatz haben Strub und Okanlawon schon im Jahr nach der Gründung ihrer Organisation einen grossen Erfolg erzielt. Die WHO nimmt Noma nun ernster. Die Klassifikation als vernachlässigte Krankheit könnte neue Mittel und Aufmerksamkeit generieren, welche die Forschung fördern. In der kommenden Woche wird Strub an einer WHO-Sitzung erste Einblicke in die Pläne der Weltgesundheitsorganisation bekommen.

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