Samstag, April 19

Am Samstag haben sich beim Allalin-Rennen in Saas-Fee zwei schwere Unfälle ereignet. Ein 18-jähriger Schweizer ist noch auf der Piste verstorben. Über Risiko und Reiz der Schweizer Volksabfahrten.

Was genau bei der 43. Ausgabe des Allalin-Rennens in Saas-Fee am Samstag geschah, ermittelt derzeit die Walliser Staatsanwaltschaft. Sicher ist: Am Vormittag stürzte ein 26-jähriger Fahrer im untersten Streckenteil und zog sich schwere Verletzungen zu. Er wurde mit dem Helikopter ins Spital von Sitten geflogen. Wenige Stunden später prallten bei der Stelle «Derbyschuss» ein 72-jähriger Mann aus der Region Zürich und ein 18-jähriger Berner Oberländer ineinander. Der ältere Fahrer erlitt lebensgefährliche Verletzungen, der jüngere verstarb noch vor Ort. Er hatte zum ersten Mal am Allalin-Rennen teilgenommen.

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Der Schock im Tourismusort Saas-Fee ist gross und überwältigt alle Beteiligten. Erst am Montagabend veröffentlichten die Organisatoren eine Mitteilung. Darin schreiben sie von «tiefer Bestürzung und grossem Schmerz», die sie erfassten. Sie sprachen den Hinterbliebenen des Verstorbenen ihr «tiefstes Mitgefühl» aus und wünschten den Verletzten eine rasche und vollständige Genesung.

Das Allalin-Rennen gehört mit dem Inferno-Rennen in Mürren und der Hexen-Abfahrt auf der Belalp zu den «Super-drei-Rennen», den letzten grossen Volksabfahrten der Schweiz. Wer die Gesamtwertung aus allen drei Rennen gewinnt, darf sich Abfahrtsmeister der Amateure nennen. Das grosse Finale findet immer am zweiten Samstag im April in Saas-Fee statt.

Die Volksabfahrten sind ein Kulturgut. Es gibt Sie-und-er-Rennen, Plauschkategorien, Live-Musik, Kantinenbetrieb und festliche Atmosphäre. Den Höhepunkt bilden die Einzelrennen, an denen jeweils Hunderte Männer und Frauen teilnehmen. Sie zwängen sich in professionelle Rennanzüge, schnallen sich modernste Ski an und kalkulieren vor jeder Einfahrt in einen Hang, wie viel Vorsicht sie walten lassen und wie viel Risiko sie eingehen wollen. Immer wieder stürzen Fahrer bei diesen Rennen. Sie erleiden Prellungen, Gehirnerschütterungen, komplizierte Knochenbrüche. 1984 starb in Saas-Fee ein junger einheimischer Teilnehmer, als er von der Piste abkam und 50 Meter in die Tiefe stürzte.

«Den Schalter umlegen»

Wer sich für das Allalin-Rennen anmelden will, liest auf der offiziellen Website, die Skipiste sei perfekt präpariert, damit ein sicheres Rennen garantiert sei. Die Herausforderungen seien dennoch nicht zu unterschätzen. «Denn Profis und Amateure werden hier gleichermassen auf die Probe gestellt.» Es ist eine erste Warnung.

Doch im Hintergrund läuft ein Video mit schnellen Schnitten im Autoplay-Modus. Es zeigt Fahrer, die in die Hocke gehen, springen, überholen, einen Engpass befahren. Vieles erinnert an ein Werbevideo für das legendäre Lauberhornrennen. Gleich daneben geht es zur Anmeldung.

Die Ausführungen auf der Website sensibilisieren zwar für allfällige Risiken, doch zugleich tragen sie zur Dramatik bei und sind Teil der Verklärung. Und damit vielleicht auch des Problems.

Das Reglement des Allalin-Rennens sagt zwar klar: Wer hier herunterfährt, verpflichtet sich, selbständig eine Unfallversicherung abzuschliessen, denn das OK lehnt jede Haftung bei Unfällen ausdrücklich ab. Doch es gibt keine weiteren Teilnahmebedingungen, keine Qualifikation, keine Altersbegrenzung nach oben. Nur dass alle Teilnehmer mindestens 18 Jahre alt sein müssen. Und so melden sich jedes Jahr Hunderte Fahrer an. Und gehen ein Risiko ein.

Die Teilnehmer wagen sich auf eine Strecke, die vom Fuss des vergletscherten Allalinhorns auf 3600 Metern über 9 Kilometer hinunter nach Saas-Fee führt und technisch hochkomplex ist. Die Abfahrt ist doppelt so lang wie das längste Rennen im Weltcup der Profis, das legendäre Lauberhornrennen. Und genau wie am Lauberhorn tragen die Schlüsselstellen der Allalin-Abfahrt einprägsame Namen wie «Eiskristall», «Weisse Meile» oder eben «Derbyschuss». Nur etwas ist anders als im Weltcup: Die Strecke ist weniger stark gesichert, es gibt weniger Fangnetze als bei den Profis.

Erfahrene Teilnehmer sagen, wer gewinnen wolle, müsse an einigen Stellen einen «Schalter im Kopf umlegen» oder «das Hirn ausschalten» und die Ski laufen lassen.

Der Reiz der Allalin-Abfahrt und der anderen Volksabfahrten liegt tief im Selbstverständnis der Skination begründet. In der Schweiz ist jeder passionierte Skifahrer wahlweise ein verhindertes Talent oder ein verkannter Experte. Das Allalin-Rennen ist also auch eine Gelegenheit, sich unter extremen Bedingungen zu beweisen. Die schnellsten Fahrer erreichen bis zu 140 Kilometer pro Stunde. Es sind Geschwindigkeiten wie bei den Profis. Die Bestzeit am Samstag lag bei 3 Minuten, 54 Sekunden und 35 Hundertsteln.

Das alles zeigt: Am Allalin-Rennen betreiben ehrgeizige Amateur-Fahrer einen Extremsport.

Dichtestress auf der Rennpiste

Seit zwei Jahren überträgt das Walliser Lokalfernsehen das Allalin-Rennen in einem Live-Stream. Vergangenes Jahr erklärte der Gemeindepräsident von Saas-Fee vor der Kamera, es gebe zwei Kategorien von Teilnehmern. Einerseits «die jungen, frechen Wilden», die gewinnen wollten, das Hirn «sozusagen ausschalten» und «herunterblochen». Dann die älteren, die ein bisschen mehr Erfahrung mitbrächten und nicht den Sieg, sondern ein gutes Resultat einfahren wollten. «Eine Challenge für sich selbst.»

Am Samstag nahmen mehr als 450 Fahrerinnen und Fahrer am Einzelrennen teil. Sie starteten in einem Intervall von 15 Sekunden. Die stärksten Fahrer der vergangenen Jahre durften – wie immer – zuerst auf die Strecke. Doch wer zum ersten Mal teilnahm und um den Sieg mitfahren wollte, musste mit einer hohen Startnummer ins Rennen gehen und sich die Piste mit Fahrern teilen, die mit mehr Zurückhaltung unterwegs waren. So kommt es zu gefährlichen Überholmanövern auf der Piste. Der Dichtestress und das Risiko von schweren Kollisionen steigen.

Christoph Egger ist OK-Präsident des Inferno-Rennens in Mürren und sagt, er könne sich nicht zu den tragischen Vorfällen in Saas-Fee äussern. Doch Überholmanöver gebe es an allen Volksabfahrten. Beim Inferno gebe es so viele Fahrer, dass es nichts bringe und schlicht nicht möglich sei, die Intervalle zwischen den einzelnen Teilnehmern zu erhöhen. Sonst dauere das Rennen bis in die Dämmerung. Alternativen zu den jetzigen Abständen zwischen den Fahrern stehen derzeit nicht zur Diskussion.

Manchmal entziehen die Organisatoren der Volksabfahrten einem Teilnehmer die Starterlaubnis, wenn sie merken, dass er überfordert ist. Das setzt allerdings voraus, dass dieser Teilnehmer schon ein Rennen bestritten hat und die Überforderung offensichtlich wurde. Bei mehreren hundert Teilnehmern ist das eine Herausforderung sowie ein emotionales Thema. Christoph Egger sagt: «Diese Fahrer haben oft Mühe, sich das einzugestehen.»

Früher haben Christoph Egger und seine Kollegen die verletzten Fahrer jeweils am Montag nach dem Rennwochenende im Spital besucht. In den letzten drei Jahren entfiel dieses Ritual, da alle Verletzten bereits entlassen worden und wieder zu Hause waren. Und doch steht diese Anekdote sinnbildhaft dafür, dass die Organisatoren und die Fahrer mit den Volksabfahrten einen unausgesprochenen Deal eingehen.

Alle wissen, dass das Risiko mitfährt. Als in Saas-Fee am Samstagmorgen der erste Fahrer schwer stürzte, wurde das Rennen kurz unterbrochen. Dann wurde der Fahrer mit dem Helikopter ins Spital transportiert, und das Rennen wurde wieder freigegeben. Als wenige Stunden später der Funkspruch durchgegeben wurde, dass das Rennen abgebrochen wird, wussten alle: Es muss etwas wirklich Schlimmes passiert sein.

Die Organisatoren der Allalin-Abfahrt schreiben in ihrer Mitteilung, man könne keine weiteren Auskünfte erteilen. Die Untersuchungen würden andauern. Vermutlich wird es aber auch im nächsten Jahr ein Allalin-Rennen geben. Auf der offiziellen Website läuft bereits der Countdown bis zur nächsten Abfahrt. Sie findet am 11. April 2026 statt.

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