Freitag, September 20

Der Fachkräftemangel in den Kirchen muss durch Geistliche aus der ganzen Welt kompensiert werden. Davon handelt das Stück «Fremde Seelen» von Eva-Maria Bertschy. An der Premiere im Theater Neumarkt überzeugt vor allem die Schauspielerin Carol Schuler.

Die Gezeiten der Geschichte sind wechselhaft wie Sonnenschein, Nebel und Niederschlag. Vor hundert Jahren noch liessen sich Europäer von Nordwinden übers Meer in den Süden tragen, wo sie sich an fremden Gütern bereicherten. Sie hatten aber auch etwas mitgebracht: ihre heilige Mission, das Christentum. Unterdessen finden sich unter all den Migranten, die aus dem Süden und dem Fernen Osten über den Ozean in den Norden drängen, christlich geschulte Missionare, die sich um das Seelenheil der Europäer kümmern sollen.

Es herrscht eben Fachkräftemangel in der Kirche, auch in der Schweiz. Schon vor gut zwanzig Jahren soll die Seelsorgerstelle in einem Bergdorf von einem vietnamesischen Geistlichen besetzt worden sein, der nach kurzer Zeit verstarb. Ihm hat Eva-Maria Bertschy «Fremde Seelen» gewidmet, eine theatrale Recherche mit Prolog, Epilog und einem halben Dutzend Kapitel; am Mittwoch feierte sie Premiere im Theater Neumarkt. Es handelt sich um Fiktion mit falschen Namen, die Schweizer Autorin nimmt jedoch Bezug auf den authentischen Fall.

Weiss, grau und grün

Wenn anfangs ein Bild des anonymen Bergdorfs auf einer runden Scheibe erscheint, versteht man gleich, dass das Glück diese kleine Welt verlassen hat. Eine Einöde in Weiss, Grau und Grün, ein paar Häuschen, und im Hintergrund der Zacken eines Berggipfels. Und es erstaunt einen nicht, dass Pfarrer Hoang sich in der alpinen Kälte nie wohlfühlte.

Der Vietnamese war damit nicht der Einzige. Wie man von Carol Schuler in der Rolle der engagierten Erzählerin, der beherzten Sängerin und der interessierten Tochter einer Mutter aus besagtem Dorf erfährt, hat die jüngere Generation die Berge Richtung Tal verlassen, um in den Städten Karriere zu machen. Nur noch wenige Leute mühten sich auf den schiefen Hängen schweizerischer Urtümlichkeit um eine würdige, christliche Existenz.

Und so bleibt die Kirche fast leer, das Leben hat sich so weit aus dem Dorf entfernt, dass selbst der Friedhof verwaist ist. Auch Pfarrer Hoangs Grab ist nicht zu finden, der hier nach vier Jahren den Tod fand – man weiss nicht, ob es Suizid war oder ob er an einer Pilzvergiftung starb. Seither ruht sein Leichnam unter einem Stein im Bergbach.

Bertschy hat aus der Verbindung von Weltgeschichte und diesem provinziellen Ereignis eine weitmaschige Erzählung gewoben, durch die Carol Schuler überraschend munter hindurchspaziert. Die gewitzte Performance der Schauspielerin, die man auch als Schweizer «Tatort»-Kommissarin kennt, setzt dabei einen steten Kontrast zur Tragik des aufbereiteten Stoffes. Nichts von tränenseliger Betroffenheit!

Das liegt allerdings nicht nur an Schulers Impulsivität, sondern auch an der vielfältigen Struktur der Inszenierung. So wird «Fremde Seelen» musikalisch virtuos begleitet vom kongolesischen Gitarristen Kojack Kossakamvwe. Der Musiker spielt überdies aber auch den streitbaren Partner der Erzählerin. Ihre gemeinsame Geschichte, die bis nach Kinshasa reicht, umrankt mehrfach den erzählerischen Hauptstrang. Und ihre Zänkereien auf Französisch – sonst wird Deutsch und Schweizerdeutsch gesprochen – verleihen der Aufführung eine ironische Note.

Zumal Kossakamvwe von Schuler immer wieder zu lustigen Rollenspielen genötigt wird. So soll er den Priester aus Mali spielen, der Hoang später ersetzte. Oder den Zollbeamten, der in Genf vietnamesische Boat-People in Empfang nehmen soll und dann reihenweise imaginäre Pässe abstempelt.

Hoangs Flucht in die Schweiz wird aus der Perspektive einer vietnamesischen Nonne rekonstruiert, die mit ihm aufgewachsen und geflohen sein soll. Carol Schuler schlüpft in ihre Rolle und berichtet, wie die Katholiken, von den kommunistischen Nordvietnamesen drangsaliert und schikaniert, die Flucht übers Meer in behelfsmässigen Booten ergriffen. Und wie sie über die Reling ins Meer starrte.

«Äs Wändli ums Ländli»

Wasser fungiert in «Fremde Seelen» zum einen als verbindendes Element, das den Bergsee mit dem Ozean verknüpft. Zum andern bewährt es sich als Metapher für den Tod. Die Erzählerin steht tatsächlich von Beginn weg in der seichten Nässe eines grossen, runden Beckens. Da philosophiert sie bisweilen über die Möglichkeit eines suizidalen Sprungs ins tiefe Wasser, in der sie ihre existenzielle Freiheit zu erkennen glaubt. Die Boat-People hingegen werden von den dunklen Wogen verfolgt wie von der Angst um ihr Leben.

«Fremde Seelen» kulminiert aber mit Humor im parodierten Bild einer heilen Schweiz. Carola Schuler spielt Alphorn. Ein Chor singt eine Volkshymne: «Härrgott, mach um üsers Ländli i der Not äs Wändli». Längst ist allen klar, dass auf diese volkstümliche Weise kein Staat zu machen und keine Heimat zu finden ist. Das mag witzig sein, aber das Stück droht mit der Zeit etwas auseinanderzufallen in seiner heterogenen Anlage. Trotzdem ist der euphorische Beifall am Schluss verdient. Er gilt vor allem Carol Schuler, ihrem schauspielerischen Schwung und ihrem suggestiven Charisma.

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