Der Angriff in Washington wirft ein Schlaglicht auf die Situation von Jüdinnen und Juden in den USA. Antisemitische Vorfälle haben stark zugenommen, oft im Zusammenhang mit Anti-Israel-Demonstrationen. Gemeinden und Institutionen sorgen sich um ihre Sicherheit.
Die tödlichen Schüsse in Washington auf zwei Mitarbeiter der israelischen Botschaft am Mittwochabend haben in den Vereinigten Staaten und Israel zu entsetzten Reaktionen geführt. Bei den Opfern handelt es sich laut dem israelischen Botschafter Yechiel Leiter um ein junges Paar, das kurz vor der Verlobung stand. Der Antrag war für kommende Woche in Jerusalem geplant. Sie wurden erschossen, als sie eine Veranstaltung für junge jüdische Berufstätige im Jüdischen Museum in Washington verliessen.
Beim mutmasslichen Täter handelt es sich laut der Polizei um einen 30-jährigen Mann aus Chicago. Er soll sich kurz nach 21 Uhr einer Gruppe von vier Personen genähert und das junge Paar aus nächster Nähe erschossen haben. Als er verhaftet wurde, rief er laut Polizeiangaben laut «Free, free Palestine». Die Tat erhielt damit sofort eine politische Dimension.
Jüdische Organisationen sowie amerikanische Politiker aus allen Lagern verurteilten die Tat. Präsident Donald Trump bezeichnete sie klar als antisemitisch. Auch Israels Staatspräsident Isaac Herzog sprach in einer ersten Reaktion von einem «verabscheuungswürdigen Akt des Hasses, des Antisemitismus». Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu bezeichnete die Tat als «schrecklichen, antisemitischen Mord». Sie sei ein Beweis für den Preis des Antisemitismus und der zügellosen Aufwiegelung gegen Israel, ergänzte er.
Immer mehr antisemitische Vorfälle
Der Angriff fällt in eine Zeit, in der Fälle von Antisemitismus in den Vereinigten Staaten zugenommen haben. Laut der Anti-Defamation League (ADL), die seit 1979 jedes Jahr eine Untersuchung dazu veröffentlicht, gab es im Jahr 2024 so viele antisemitische Vorfälle wie noch nie. Im ganzen Land zählte die Nichtregierungsorganisation 9354 antisemitische Übergriffe. Das sind fünf Prozent mehr als im Jahr 2023 und 344 Prozent mehr als vor fünf Jahren.
Bei etwas mehr als zwei Dritteln der 2024 registrierten Vorfälle (6552) geht es um Belästigung. Bei knapp einem Drittel (2606) handelt es sich um Vandalismus. 196 Vorfälle waren körperliche Angriffe.
Der starke Anstieg folgte auf den Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und den Krieg in Gaza. Doch schon in den Jahren davor hatte die Zahl der antisemitischen Vorfälle laut der ADL zugenommen: 2024 war bereits das vierte Jahr in Folge mit einem Anstieg.
Der ADL und anderen jüdischen Organisationen wird regelmässig vorgeworfen, legitime Kritik an der israelischen Regierung und dem Vorgehen der israelischen Armee sowie dem Einstehen für die Palästinenser als antisemitisch abzutun. Dem widerspricht die Organisation: «Die ADL achtet darauf, allgemeine Kritik an Israel oder Anti-Israel-Aktivismus nicht mit Antisemitismus zu verwechseln», heisst es im jüngsten Bericht der ADL.
Neben der ADL verzeichnete auch die Bundespolizei FBI einen starken Anstieg bei antisemitischen Hassverbrechen im Oktober, November und Dezember 2023, nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel. FBI-Zahlen für das Jahr 2024 liegen noch nicht vor.
Die Entwicklung wirkt sich auf das Sicherheitsgefühl von Jüdinnen und Juden in den Vereinigten Staaten aus. Laut einer Umfrage des American Jewish Committee für 2024 gaben 77 Prozent der Befragten an, sich nach dem Terrorangriff der Hamas weniger sicher zu fühlen. 56 Prozent sagten, aus Angst vor Antisemitismus ihr Verhalten geändert zu haben. Ein Drittel berichtete, 2024 mindestens einmal – persönlich oder virtuell – Opfer von Antisemitismus geworden zu sein.
Amerikaner halten immer weniger zu Israel
Während Präsident Donald Trump und zuvor Joe Biden den Kurs der israelischen Regierung grundsätzlich unterstützt haben, löst das Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen in Teilen der amerikanischen Bevölkerung viel Unmut aus. Laut einer im März publizierten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup ist der Rückhalt für Israel auf dem tiefsten Stand seit 25 Jahren. Gleichzeitig sympathisieren immer mehr Amerikaner mit den Palästinensern. Besonders ausgeprägt ist dieser Trend bei Personen, die eher der Demokratischen Partei nahestehen.
Laut der Erhebung der ADL fand 2024 ein Grossteil der registrierten antisemitischen Vorfälle während antiisraelischer Proteste statt. Immer wieder kommt es vor der israelischen Botschaft, aber auch in Universitäten im ganzen Land zu Demonstrationen. Die Studierenden fordern von den Hochschulen, dass sie akademische Beziehungen mit israelischen Institutionen beenden. Die ADL verzeichnet vermehrt auch antisemitische Vorfälle an Universitäten. Die Trump-Regierung wirft Eliteuniversitäten wie Columbia, Harvard oder Princeton vor, zu wenig gegen Antisemitismus an den Hochschulen zu unternehmen, und droht mit der Kürzung von Geldern.
Antisemitische Vorfälle an jüdischen Institutionen haben laut der ADL im Jahr 2024 im Vergleich zum Vorjahr zwar etwas abgenommen, es sind aber weiterhin mehr als vor dem 7. Oktober 2023. Vor allem Synagogen seien Ziel von Hunderten von Bombendrohungen und anderen antisemitischen Drohungen geworden. Mitglieder jüdischer Gemeinden in der Nähe solcher Institutionen würden belästigt und sogar angegriffen. Der israelische Ministerpräsident Netanyahu ordnete nach dem Angriff von Washington denn auch an, die Sicherheit an israelischen Vertretungen weltweit zu erhöhen.
Sicherheitsbedenken an jüdischen Institutionen
Auch Beatrice Gurwitz, die Leiterin des Jüdischen Museums in Washington, wo die tödlichen Schüsse am Mittwochabend fielen, machte sich schon vor dem Attentat Sorgen um die Sicherheit. Das sagte sie zwei Tage vor dem Angriff zum Fernsehsender NBC4. Jüdische Institutionen in der ganzen Stadt, im ganzen Land seien besorgt. Als Grund nannte Gurwitz ein «Klima des Antisemitismus».
Das Museum in Washington ist der Geschichte des jüdischen Lebens in der amerikanischen Hauptstadtregion gewidmet. Teil des Museums ist auch die älteste noch erhaltene Synagoge der Stadt, die 1876 gebaut wurde.
In den vergangenen Jahren kam es in den Vereinigten Staaten immer wieder zu tödlichen Angriffen auf jüdische Institutionen und Gemeindemitglieder. Im Dezember 2019 ereignete sich in Jersey City im Gliedstaat New Jersey ein Blutbad in einem koscheren Lebensmittelgeschäft, bei dem sieben Personen ums Leben kamen, unter ihnen die beiden Täter. Im Oktober 2018 fand in einer Synagoge in Pittsburgh im Staat Pennsylvania der bisher gravierendste Angriff auf eine jüdische Gemeinde in den Vereinigten Staaten statt. Dabei erschoss ein Mann elf Personen und verwundete weitere sechs.