Freitag, April 18

Der polnische Schriftsteller erinnert im Roman «Die Glühbirnendiebe» an die kollektivistischen Jahre unter Sowjetbesetzung. Im Essayband «Feuerprobe» geht er Europas zivilisatorischer Idee auf den Grund.

Lang ist er, lang, der Korridor, der unterm Dach eines riesigen sozialistischen Plattenbaus hindurchführt, mit Türen in alle Richtungen, mit Luken und Ausblicken auf Industrielandschaften und den Neon-Schriftzug «Radio und Fernsehen – das Fenster zur Welt».

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Auf diesem Korridor, von dessen siebenundsiebzig Glühbirnen höchstens sieben funktionieren, ist der Ich-Erzähler des Romans «Die Glühbirnendiebe» Tadeusz unterwegs, um wertvolle Kaffeebohnen bei Stefan am andern Ende des Blocks mahlen zu lassen. Der Autor Tomasz Rozycki aber zögert die Ankunft seines Helden hinaus, indem er ihn ständig abschweifen lässt: in Erinnerungen an pyromanische Experimente, an Freund- und Liebschaften, in minuziöse Beschreibungen der Nachbarn, der Haustiere, des gigantischen Müllschluckers und der maroden Beschaffenheit des Blocks.

Dieser bildet einen Kosmos, der im Kleinen den heruntergewirtschafteten polnisch-kommunistischen Staat versinnbildlicht: mit seinen Spitzeln und Profiteuren, seinen weggesperrten Behinderten und seinen redlichen Arbeitern, die nach der Rente dahinsterben, von Berufs- und Umweltschäden gekillt.

Erden- und Mondmenschen

Wir befinden uns in Schlesien Anfang der achtziger Jahre. Tadeusz’ Vater arbeitet in einer Maschinenfabrik, seine Haut ist durchbohrt von glänzenden Metallsplittern, die in der Sonne opalisierend leuchten, als «wäre er kein Erden-, sondern ein Mondmensch». Solche wie er gründeten die Solidarnosc, schufteten sich zu Tode, ohne sich einen Farbfernseher oder «eine gescheite Waschmaschine» kaufen, geschweige denn Ferien machen zu können. Selbst der stets verfügbare Wodka kann über das desolate Fazit nicht hinwegtrösten.

Tadeusz erzählt – in der glänzenden Übersetzung von Bernhard Hartmann – lebhaft, outet sich als «Herakliteer», der an das Feuer als Symbol ständigen Wandels glaubt, er zündelt mit Worten und Taten und führt stets die Götter ins Feld. Sie sind es, die hinter Zufall und Ungemach stecken, die sich vampirisch in den Lebenden einnisten, um sie von innen zu zerstören. Zwar geht nicht alles auf ihr Konto, doch vieles schon.

Tomasz Rozycki hat mit seinem Helden eine vielfältige Figur geschaffen: neugierig und kritisch, belesen und verträumt, empathisch und abenteuerlustig. Darin gleicht Tadeusz dem Autor, der Realitätscheck mit Poesie, surrealen Szenen, Zahlenmagie und Komik verbindet. Die Einwohner des «postapokalyptischen Blocks» tragen Namen von Adligen und berühmten Künstlern oder skurrile Vornamen wie Bermuda und Barrikada, sie kokeln, brennen heimlich Schnaps, fressen Beruhigungspillen und springen von Balkon zu Balkon. Manchmal wird jemand von der Leere oder einem der umliegenden Baggerseen verschluckt.

Viele Tableaus sind beängstigend realistisch, etwa die des einzigen, meist defekten Aufzugs, in dem kein vernünftiges Möbelstück, geschweige denn ein Sarg Platz findet. Doch mit einem kleinen Dreh verpasst der Autor dem Aufzug – oder dem endlosen Korridor – eine kafkaeske Wendung, die das Metaphysische streift. Wobei wir wieder bei den Göttern wären. Göttern, die mitunter zynisch lachen. So, wenn Tadeusz, vor Eile, den frisch gemahlenen Kaffee auf dem langen Korridor verschüttet.

Tomasz Rozycki ist nicht nur als Prosaschriftsteller, sondern auch als Lyriker und Essayist bekannt. Thematisch kreisen seine Werke fast obsessiv um das oberschlesische Opole, wo er zur Welt kam und bis heute lebt, nachdem seine Grosseltern mit den kleinen Kindern 1945 aus dem sowjetisch besetzten Lwiw nach Schlesien zwangsumgesiedelt worden waren.

Dieser Exodus beschäftigt ihn im Essayband «Feuerprobe», als Beispiel für jene zahllosen Umsiedlungen und Fluchtbewegungen, die im 20. Jahrhundert die Kartografie, ja die Identität Europas grundlegend verändert haben. In mäanderndem Diskurs beschreibt Rozycki Europas «Grenzmanie» und Betonung der Unterschiede; er unterteilt den Kontinent in eine Wein-, eine Bier- und eine Wodkazone, wobei Letztgenannte die problematischste und todesanfälligste ist; er sinniert über Zentrum und Provinz («Die Provinz ist ein Kontinuum von Zonen des Verfalls, von Peripherien, Müllhalden, Städtebauchaos, Depots, Baracken, Parkhäusern, Schrottplätzen, Slums . . .»), liefert eine einprägsame Physiognomik der Bahnhöfe und eine poetisch anmutende europäische Meteorologie.

Trügerisches Unterfangen

Ausgehend von der Faust-Figur gibt er einen profunden Abriss abendländischer Melancholiegeschichte und widmet mehrere Vignetten verschollenen, verbrannten oder von Schriftstellern selbst vernichteten Büchern. Literatur, Kunst, Mythologie und Religion durchziehen den ganzen Band, denn Europa ist nach Rozyckis Lesart ein Palimpsest. Erfahrbar wird dies durch mehrere suggestive Reiseschilderungen des Autors, etwa einer Zugreise von Sofia über das Balkangebirge und Rumänien nach Czernowitz. Landschaften und Geschichte, Raum und Zeit ziehen an unsern Augen vorbei, während das Innenleben des Zugs Buntheit, Hitze und benebelnde Gerüche entfaltet. Bis die Zollkontrolle unbarmherzig zuschlägt.

Europa zu kartografieren, ist ein trügerisches Unterfangen, da macht sich Rozycki nichts vor. Weshalb er aus wechselnder Perspektive versucht, einzelne Facetten des Kontinents, seiner reichhaltigen Kultur und leidvollen Geschichte zu beleuchten. Dazu gehört der millionenfache Mord an Europas Juden, aber auch die erzwungene Hungersnot 1932 bis 1933 in der Ukraine. Europa als «Herz der Finsternis».

Manchmal zoomt sich der Autor nahe an die Dinge heran: so, wenn er Bilder von Vermeer oder Schriften von Cervantes, Kafka und Bruno Schulz analysiert, Pessoas Reiseführer durch Lissabon folgt oder den mitteleuropäischen Spuren von Kundera, Kiš und Zagajewski.

Viele Fragen bleiben offen, notgedrungen. Doch aus der Fülle von Reflexionen, Erinnerungen und Notaten schält sich ein Appell heraus, der gerade heute nicht überhört werden darf: Europas zivilisatorische Idee verpflichtet zur Akzeptanz von Vielfalt und zur Verbreitung von Toleranz. Und da der zweite, grössere Teil Europas weiterhin ein Europa ohne Union ist, bleibt dringend zu überlegen, wie es mit diesem weitergeht. Könnte er sich am Ende gar als der europäischere erweisen?

Tomasz Rozycki: Die Glühbirnendiebe. Roman. Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann. Edition Fototapeta, Berlin 2024. 221 S., Fr. 37.90. – Tomasz Rozycki: Feuerprobe. Die trügerische Kartographie Europas. Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann. Arco-Verlag, Wuppertal 2025. 298 S., Fr. 34.90.

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