Freitag, Oktober 4

Es muss nicht immer Wein sein: Die Köchin mit den meisten Sternen der Welt, Anne-Sophie Pic, setzt in ihrem wiedereröffneten Restaurant in Lausanne konsequent auf originelle Mischgetränke.

Eine Rolltreppe in der Küche! Wer hinter die Kulissen im altehrwürdigen Hotel Beau-Rivage Palace in Lausanne schaut, betritt eine kleine, verschachtelte Welt für sich. In einem Nebengang hat dieses Labyrinth einen neuen Aussenposten, das sogenannte Labor, einen Zwitter aus Kräuterküche und Hightech-Lab. Hier entstehen als Alternative zur klassischen Weinbegleitung erstaunliche, bis ins kleinste Detail durchdachte Mixgetränke, wie man sie selten serviert bekommt, zumal in der Spitzengastronomie.

Anfang September hat das Restaurant Pic im «Beau-Rivage» nach fast einjährigem Umbau wiedereröffnet, mit neuem Team, Konzept und dem Labor. Die Patronin, die Französin Anne-Sophie Pic, ist mit ihren sieben Restaurants die Köchin mit den meisten Michelin-Sternen der Welt, nämlich zehn (vor ihr liegen ein paar Männer). Pics Dépendance in Lausanne hat bisher zwei Sterne, der dritte soll rasch dazukommen.

Das Labor und die passende Bar, «table de création» genannt, also «Kreativtafel» oder «-werkbank», sind zentral im neuen Konzept. Sie stehen für die gestiegene Bedeutung der originellen Getränkebegleitung, vor allem der Mischgetränke mit keinem oder niedrigem Alkoholgehalt. Solche «No-Low»-Cocktails ergänzen oder ersetzen vollständig das klassische «Pairing» mit Wein.

Kopenhagen und Berlin waren Trendsetter

Wie viele Trends in der Gastronomie begann auch dieser in Nordeuropa und den USA. Das legendäre Restaurant «Noma» in Kopenhagen setzte schon in den 2010er Jahren auf Säfte wie Moltebeere mit Sauerklee oder Birne mit isländischen Hasenglöckchen. Im Berliner «Horváth» produziert der österreichische Sternekoch Sebastian Frank seit der Schwangerschaft seiner Frau monatelang gegärte, mit Weinessig und Weinlaub versetzte Apfelsäfte.

In Frankreich hingegen, dem eigenen Selbstverständnis nach das Mutterland des guten Essens, tun sich bis heute viele Köche schwer mit solch vermeintlichem Frevel. Zu exquisiten Speisen gehören exquisite Weine, c’est tout.

Auch in der Schweiz scheint diese Haltung noch verbreitet. Die Beraterin für «neue Trinkkultur» Nicole Klauss schreibt auf ihrer Website über ein Treffen mit hiesigen Köchen, diese hätten sie mit verschränkten Armen gefragt: «Wer will alkoholfreie Speisebegleitung eigentlich? Das ist sowieso wieder nur so ein Trend aus Berlin.»

Es zeigt sich, dass immer mehr Leute Alkoholfreies wollen, und zwar nicht nur Schwangere und Halbasiatinnen wie die Beraterin Klauss. Sondern auch gesundheitsbewusste Gäste – oder einfach solche, die sich nach einem Menu mit zehn Gängen und dem jeweils passenden Getränk am nächsten Tag noch daran erinnern wollen, was sie Tolles gegessen haben.

Anne-Sophie Pic gilt unter Frankreichs Sterneköchen als Pionierin dieses Trends. In ihrem Imperium ist er 2019 angekommen, zunächst im Stammhaus in Valence südlich von Lyon, dann in den Ablegern wie London, Hongkong oder 2021 in Lausanne. Am Anfang setzten Pic und ihre Chefsommelière Paz Levinson auf Tee statt Wein, aber das kam nicht so gut an. Sie verfeinerten ihr Angebot, bis hin zur heutigen «pluralistischen Sommellerie», die Speisen nicht nur begleiten, sondern komplettieren soll.

Der Mixologe präsentiert sein Reich

Daher also das neue Lausanner Labor. Es ist der Stolz des Barkeepers, pardon: Mixologen Alexandre Besnault. An seinen vorherigen Arbeitsstationen habe er immer die Küche mitbenutzen müssen und die dortigen Kollegen gestört, sagt der junge Franzose schmunzelnd. Seit er im Frühjahr aus Montreux ins Restaurant Pic wechselte, hat er sein eigenes Reich – und durfte es sogar selbst einrichten.

Seine Küchengeräte dürften nicht nur Hobbyköche neidisch machen. Der grösste Schatz ist ein sogenannter Rotovap, ein Rotationsverdampfer zum Destillieren, der so viel kostet wie eine typische Heimküche. Er besteht aus einem gläsernen Alambik und einer Vakuumpumpe, die eine schonende Destillation ermöglicht: nicht wie üblich bei rund 80 Grad Celsius, sondern bei 20. «So zerstören wir die Zutaten nicht», sagt Besnault, während im Bain-Marie ein Ringelblumen-Wässerchen badet.

Ähnlich funktioniert der Thermostat, mit dem Besnault und seine Kollegin Juliette Sèvres eine Gin-artige Botanikessenz mit einer Osmanthus-Infusion schonend sous-vide garen. Es ist die Basis eines Cocktails namens «Petit Miroir».

Säfte stellen Besnault und seine Kollegen mit einer Zentrifuge her, die mit 18 000 Umdrehungen pro Minute auch Karotten zuverlässig in feste und flüssige Teilchen trennt, damit sich im Glas später kein Bodensatz bildet. «Das ermöglicht uns komplett klare Säfte», sagt Besnault, der privat so gut wie nie Alkohol trinkt.

In einer Regalecke des Labors stapeln sich transparente Plastikbehälter mit Dutzenden Gewürzen und Pflänzchen: Selleriesalz und Steinklee-Stengel, Kakaoschalen und Genmaicha Tonka, eine japanische Grünteemischung. Lokale Zutaten und Lieferanten haben im Restaurant Pic nun einen noch prominenteren Platz, zum Beispiel Hagedorn oder aromatisierter Pfeffer von einem Spezialisten in Payerne, der mit einem Parfümeur zusammenarbeitet.

Die Gewürzwand, wie Besnault sie nennt, ist ihm eine Inspirationshilfe: Das Menu der Chefin könne rasch ändern, einzelne Gerichte plötzlich modifiziert werden. Dann müssen Besnault und seine Kollegen schnell reagieren. «Wir haben fast grenzenlose Möglichkeiten», sagt er. Die traditionellere Welt des Weins hingegen habe naturgemäss gewisse Grenzen.

Und was trinkt man nun also im Restaurant Pic, wenn es kein Wein ist? An einem Journalisten-Dîner zur Wiedereröffnung unterstützten mehrere Getränke dezent die raffinierten Gerichte. Ein koreanischer Grüntee verlängerte den Genuss von Anne-Sophie Pics Spezialität Berlingots – feinen Teigtäschchen in Dreiecksform, in Lausanne gefüllt mit Freiburger Ziegenkäse und Waadtländer Mais und Safran.

Zum Seesaibling trat Alexandre Besnault an den Tisch, um ein «kreatives Getränk ohne Alkohol» zu präsentieren: eine Fenchel-Infusion mit Sellerie und Chicorée-Reduktion, welche die Röstaromen des mit Kaffee gebeizten Fischs elegant aufnahm, ohne sie kraftmeierisch zu verstärken. Und zum Rehrippchen brühte eine Kellnerin Kaffee in der Chemex-Karaffe, der sich erstaunlich harmonisch mit einem klaren Tomatensaft vereinte – und an den Fleischjus auf dem Teller erinnerte.

Als Dessert gab es zum Mille-feuille einen «Mille-Punch», für den Besnault im Labor ganze Arbeit geleistet hatte: Das Getränk enthielt mit der Zentrifuge geklärte Milch, mit dem Rotationsverdampfer destillierte Beurre noisette und eine Kamillen-Infusion.

Und ja, am Ende des Achtgangmenus ging man herrlich beschwingt, aber nicht beschwipst nach Hause – und erinnerte sich am nächsten Morgen mit einem Lächeln an die erstaunlichen kulinarischen Kombinationen vom Vorabend.

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