Der zweifache Olympiasieger Jakob Ingebrigtsen wirft seinem Vater und ehemaligen Trainer Missbrauch vor. Trotz der brisanten Causa bleibt die Aussage der Mutter unter Verschluss.
Tone Ingebrigtsen sagte kein Wort zu ihren Kindern, als sie am Dienstagmorgen den Gerichtssaal in Sandnes, Norwegen, betrat. Schweigend und ohne zu grüssen setzte sie sich zwei Reihen vor ihrer Familie hin. Auf der Anklagebank sitzt in diesem Prozess ihr Ehemann, Gjert Ingebrigtsen, 59 Jahre alt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm jahrelangen Missbrauch seines Sohnes Jakob, des weltberühmten Langstreckenläufers, sowie seiner Tochter vor.
Der Prozess wird Ende dieser Woche zu Ende gehen, er beschäftigt die norwegische Öffentlichkeit seit Wochen. Die Ingebrigtsens mit ihren sieben Kindern waren einst die norwegische Lieblingsfamilie. Da war der Vater Gjert, der ohne sportliche Vorbildung drei der Söhne zu Weltklasse-Leichtathleten formte. Am erfolgreichsten ist Jakob geworden, er errang nebst Titeln an Welt- und Europameisterschaften in Tokio und Paris zwei olympische Goldmedaillen. Doch spätestens jetzt, im Gerichtssaal, ist die Familie zerrissen.
Am Dienstagmorgen hat die Staatsanwältin ihr Schlussplädoyer gehalten. Sie forderte für Gjert Ingebrigtsen eine Haftstrafe von zweieinhalb Jahren. Laut norwegischen Medien sagte die Staatsanwältin, sie sehe es als erwiesen an, dass in der Familie Ingebrigtsen ein «Klima der Angst» geherrscht habe. Seit 2008 habe es keine Phase im Leben der Familie gegeben, in der Gewalttaten des Vater keine Rolle gespielt hätten.
Zu sehr Trainer, zu wenig Vater
2022 brachen die Leichtathleten Henrik, Filip und Jakob Ingebrigtsen mit ihrem Vater und Trainer. Im Jahr danach berichteten sie in einem offenen Brief in der norwegischen Zeitung VG so detailliert von psychischem sowie physischem Missbrauch, dass die Staatsanwaltschaft von sich aus Ermittlungen aufnahm und Gjert schliesslich zur Anklage brachte.
Im Prozess berichteten die Kinder von mehreren Gewalttaten, unter anderem soll Gjert im Januar 2022 der damals 16-jährigen Tochter mit einem nassen Handtuch ins Gesicht geschlagen haben. Der Angeklagte wies die Vorwürfe vor Gericht zurück und warf seinen Kindern «krankhaften Ehrgeiz» vor. Er räumte zwar ein, dass der Sport zu viel Raum im Familienleben eingenommen habe, er selbst sei zu sehr Trainer und zu wenig Vater gewesen. Gewalt stritt er allerdings kategorisch ab.
Klärung erhoffte sich das Gericht von der Aussage der Mutter Tone Ingebrigtsen. Sie war vor zwei Wochen als Zeugin geladen, wollte allerdings nur hinter verschlossener Tür und ohne Anwesenheit von Medienvertretern aussagen. Der Richter gab ihrem Antrag statt. Als Ehefrau des Angeklagten hätte sie die Aussage sogar verweigern dürfen. Der norwegische Journalistenverband forderte zwar, dass das Protokoll der Aussagen zugänglich gemacht wird, blitzte damit vor Gericht aber ab.
Mutter hat keine Gewalt mitbekommen
Der Richter erlaubte den Anwälten und der Staatsanwaltschaft nur, die Aussagen von Tone Ingebrigtsen in ihre Plädoyers einfliessen zu lassen – ohne sie direkt zu zitieren. Die Verteidigerin von Jakob und dessen Schwester sagte am Montag zu norwegischen Journalisten, die Mutter habe den Angeklagten unterstützt. Tone Ingebrigtsen habe ausgesagt, in ihrem Daheim habe es keine Gewalt gegeben. Sie habe keine entsprechenden Vorfälle mitbekommen. Jakob und seine Schwester hätten enttäuscht und traurig auf die Aussage der Mutter reagiert.
Die Staatsanwältin ihrerseits sagte, Tone und Gjert Ingebrigtsen hätten ihre Aussagen so abgesprochen, dass der Vater einer Strafe entgehe. «Wenn die Erklärungen der Eltern wahr sind, dann müssten die Aussagen der Kinder logischerweise falsch sein.» Daran glaube sie allerdings nicht. Zu detailliert habe Jakob Ingebrigtsen von wiederholten Schlägen gegen den Kopf in der Kindheit und vom strengen Regime des Vaters berichtet.
In ihrem Plädoyer zeichnete die Staatsanwältin das Bild einer von Gewalt, Druck und Wutausbrüchen des Vater geprägten Kindheit: «Er hat geschrien, gebrüllt, geflucht und abfällige Bemerkungen gemacht.» Die Aussagen der Kinder zu den Zuständen im Elternhaus seien eindeutig, vor allem zu jenem Vorfall, als Gjert die Tochter mit dem Handtuch geschlagen haben soll.
Die Verteidigung fordert einen Freispruch
Die Staatsanwältin führte als Beweis dafür eine Nachricht an, die Gjert Ingebrigtsen seiner Tochter nach dem Schlag ins Gesicht geschrieben haben soll. Darin stehe: «Ich entschuldige mich von ganzem Herzen und verspreche, dass ich nie mehr die Hand gegen dich erheben werde.» Es lägen genügend Beweise für Gjert Ingebrigtsens Schuld vor, sagte sie.
Am Mittwoch und Donnerstag werden die Anwältin der Kinder sowie die Verteidigerin von Gjert Ingebrigtsen ihre Schlussplädoyers halten. Letztere kündigte an, sie werde einen Freispruch fordern. Sie verwies auf ähnliche Gerichtsverhandlungen in der Vergangenheit und sagte: «Wir halten das geforderte Strafmass für viel zu hoch für die Schwere des Falles.» Es gebe obendrein keine stichhaltigen Beweise dafür, dass Gjert Ingebrigtsens Handlungen kriminell gewesen seien.
Die Verteidigerin von Jakob und seiner Schwester sagte, ihren Mandanten sei es am wichtigsten, dass die Wahrheit endlich ans Licht komme. Das Urteil soll noch diese Woche eröffnet werden.