Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester Zürich führen bei Dmitri Schostakowitsch exemplarisch vor, wie politisch Musik sein kann. Auch das übrige Programm hat es in sich.
Zürichs Musikdirektor Paavo Järvi ist ein Meister des Cliffhangers. Bei der Generalprobe zu den jüngsten Tonhalle-Konzerten bricht er genau an der entscheidenden Stelle ab. Setzt sein typisches Sphinx-Lächeln auf und murmelt so etwas wie: Das ist jetzt einfach zu anstrengend für die Musiker. Das mag sein, immerhin hat das Tonhalle-Orchester zu dem Zeitpunkt bereits eine gute Stunde mit dem Notentext von Dmitri Schostakowitschs 5. Sinfonie gerungen. Ein verteufelt intensives Stück, in der Tat – jedenfalls, wenn man es derart zugespitzt dirigiert wie Järvi. Mit dem Schluss des Finales, den Järvi erst bei den Konzertaufführungen nachliefert, hat es indes eine besondere Bewandtnis.
Er zeigt nämlich, ob ein Interpret das Stück wirklich verstanden hat. Rein äusserlich läutet Schostakowitsch hier mächtig die Triumphglocken: Trompetenfanfaren, Beckenschläge, überhelles Dur. Mit vollem Orchester wird da metaphorisch irgendein Sieg über das Schicksal besungen. Bei Dirigenten, die nicht genau hinschauen, klingt das schnell, als wäre Beethoven, der Erfinder solcher Jubelschlüsse, nach Hollywood ausgewandert. Doch Schostakowitsch hat dem Ganzen ein irritierend gebremstes Tempo verordnet; wie wenn jemand einen alten Plattenspieler langsamer dreht. Der Siegestaumel wirkt dadurch hohl und inszeniert. Wenn man es richtig macht.
Ein Kassiber aus finsterer Zeit
Paavo Järvi, der dem Komponisten zusammen mit seinem Vater Neeme als Knabe noch persönlich begegnet ist, macht es richtig. Er führt eindringlich vor, wie mutig Schostakowitsch hier agierte. Schliesslich stand er damals, 1937, unter verschärfter Beobachtung durch Stalins Kulturschergen. Diese Ideologen hatten sein Schaffen kurzerhand unter «Formalismus»-Verdacht gestellt – ein Passepartout für jedwede unliebsame Kunst. Und lebensgefährlich. Vordergründig lieferte Schostakowitsch deshalb mit der Fünften die «schöpferische Antwort eines Sowjetkünstlers auf berechtigte Kritik», indem er das Stück streng nach den Gesetzen des rückwärtsgewandten Sozialistischen Realismus komponierte. In Wahrheit ist diese Fünfte jedoch ein Kassiber aus der finsteren Zeit des sogenannten Grossen Terrors.
Järvi macht dementsprechend den Zwang deutlich, unter dem hier gejubelt wird. Schon den zweiten Satz schärft er zur Groteske – zu einem Weltekel-Scherzo nach dem Vorbild Mahlers, dessen charakteristisch doppelbödiger Ton gleich am Beginn des Programms durch Benjamin Brittens Arrangement des «Blumenstücks» aus der 3. Sinfonie gesetzt worden war. Schostakowitschs langsamer Satz verdichtet sich unter Järvis Händen zu einem grossen Klagegesang, mit berührenden Soli der Flötistin Sabine Poyé Morel und des Hornisten Ivo Gass.
Im Finale demaskiert Järvi die Musik dann endgültig: Deren kämpferische Rhetorik dröhnt so sinnentleert wie politische Worthülsen, und der Schluss ist nicht nur bedrängend langsam gedreht, er kippt auch um ins Brutale. In den letzten Takten scheinen Pauken und Schlagwerk die Musik selbst regelrecht ins Verstummen zu knüppeln. Das ist radikal, aber von der Partitur gedeckt. Und es stimmt nachdenklich: So gespielt, dürfte dieser Komponist auch in Putins schöner neuer Welt bald auf irgendeinem Index landen.
Das Individuum unterliegt
Wer es weniger aufwühlend mochte, kam zuvor bei Hélène Grimauds eleganter, auch humorvoll gelöster Lesart von Beethovens 4. Klavierkonzert auf seine Kosten. Nur der Mittelsatz wirkte in dem Programmkontext unversehens prophetisch: Da kämpft das Soloklavier immer verzweifelter gegen die herrischen Einwürfe des Orchesters an, es singt, bittet, klagt. Doch alles Flehen ist vergebens, das Individuum unterliegt. Und die Musik schliesst in tiefster Resignation.