Donnerstag, Oktober 3

Nach jahrelanger Hängepartie ist für die Versandapotheken DocMorris und Redcare Pharmacy nun alles angerichtet, damit sie endlich vom E-Rezept in Deutschland profitieren. Die nächsten Monate werden zeigen, ob die Wette aufgeht.

Diesmal hatte DocMorris für einmal die Nase vorn: Am 10. April hat die Schweizer Versandapotheke, die vor allem in Deutschland aktiv ist, von Gematik die Zulassung für das sogenannte CardLink-Verfahren erhalten. Gematik, das ist die deutsche, mehrheitlich bundeseigene Digitalagentur, die für die Digitalisierung des Gesundheitswesens in Deutschland zuständig ist. Sie erlaubt es nun, dass DocMorris-Kunden direkt über die App E-Rezepte einlösen.

Dies geschieht ab sofort per NFC-Technik, bei der die deutsche Versichertenkarte (elektronische Gesundheitskarte) neu an das Handy gehalten wird. Anschliessend tauchen sämtliche vom Arzt verschriebenen E-Rezepte auf und können direkt bestellt werden. Hauptkonkurrent Redcare Pharmacy hat letzte Woche nachgezogen und ebenfalls die Zulassung für seine CardLink-Lösung erhalten. Sie soll aber erst ab Mai einsatzbereit sein.

E-Rezept mit der Gesundheitskarte einlösen? DocMorris erklärt!

E-Rezept für Versandapotheken endlich praktikabel

Man könnte meinen, eine Funktion, die die Bestellung von rezeptpflichtigen Medikamenten per App schnell und unkompliziert ermöglicht, sei im Jahr 2024 keine grosse Sache mehr. Doch die Digitalisierung im Gesundheitswesen – auch und vor allem in Deutschland – schreitet traditionell im Schneckentempo voran.

Für DocMorris und Redcare – sie dominieren den deutschen Online-Apothekenmarkt – könnte die CardLink-Zulassung jedoch zu einem Game Changer werden. So ist zumindest die Hoffnung. «Erst jetzt lässt sich wirklich messen, ob das E-Rezept das Geschäft der Online-Apotheken ankurbeln kann», sagt Volker Bosse, Research-Chef bei Baader.

Grundsätzlich wurde das E-Rezept in Deutschland – nach jahrelanger Hängepartie – per 1. Januar dieses Jahres verpflichtend eingeführt. Ein elektronisches Rezept bei Redcare oder DocMorris einzulösen, wird für Patienten jedoch erst mit den nun vorliegenden volldigitalen App-Lösungen wirklich praktikabel.

Ob sich DocMorris durch die etwas frühere Einführung der CardLink-Lösung gegenüber Redcare einen Wettbewerbsvorteil – Stichwort First Mover Advantage – sichern kann, wird sich zeigen müssen. Es wäre das erste Mal seit langer Zeit, dass die Thurgauer gegenüber ihrem deutschen Konkurrenten mit Hauptsitz in den Niederlanden im Vorteil wären.

DocMorris hatte sich verzockt

Ein Blick auf die langfristige Aktienkursentwicklung zeigt, welche Versandapotheke sich in den letzten Jahren durch deutlich ruhigeres Fahrwasser bewegte. Während des Coronabooms 2021 zündeten beide Aktien eine Kursrally, die jeweils in eine Übertreibung mündete.

Als sich wider Erwarten abzeichnete, dass die Kunden in die stationären Geschäfte zurückkehren – und die Notenbanken angesichts steigender Inflation gleichzeitig die Zinsen im Rekordtempo erhöhten –, hatte vor allem DocMorris grosse Mühe, den Post-Corona-Kater zu verdauen. «DocMorris ist aggressiv über Akquisitionen gewachsen, womit sie sich erheblichen Restrukturierungsaufwand eingebrockt hat», sagt Bosse.

Die offensive M&A-Strategie hat DocMorris viel Geld gekostet. Fast das Genick brach der Gesellschaft die strategisch nachvollziehbare, aber riskante Entscheidung, voll auf rezeptpflichtige Medikamente und damit auf das E-Rezept in Deutschland zu setzen. Es sollte ursprünglich bereits zum 1. Januar 2022 verpflichtend sein, doch kurz vor Weihnachten 2021 – als DocMorris schon startklar mit den Hufen scharrte – verschob das deutsche Bundesgesundheitsministerium die Einführung plötzlich auf unbestimmte Zeit. DocMorris stand vor einem Scherbenhaufen.

Erst durch den Verkauf des Schweizer Geschäfts an Migros vor etwas mehr als einem Jahr konnte die drohende Pleite abgewendet und das Vertrauen an der Börse langsam zurückgewonnen werden. Redcare wiederum profitierte davon, bereits gutes Geld mit nicht rezeptpflichtigen Medikamenten zu verdienen. Das jahrelange Hin und Her mit der Einführung des E-Rezepts in Deutschland konnten die Deutschen weitaus geduldiger ertragen.

Die Beinahepleite von DocMorris dürfte unter anderem der Grund sein, warum die Aktien in den letzten zwölf Monaten um mehr als 100% zugelegt und zuletzt auch Konkurrent Redcare überflügelt haben. «Das Schlagwort ist Risk off», sagt Gian Marco Werro, Analyst der ZKB. «Die Aktien von DocMorris reflektierten zuvor das Risiko einer weiteren Kapitalerhöhung.»

DocMorris mit kurzfristiger Outperformance

DocMorris: mit Sparen aus der Krise

Tatsächlich hat sich das Bild von DocMorris in den letzten Monaten deutlich aufgehellt. Sicher half dem Aktienkurs die nun endgültige verpflichtende Einführung des E-Rezepts Anfang dieses Jahres. Doch auch operativ scheint sich eine Wende abzuzeichnen.

In den letzten beiden Jahren hat das Unternehmen aufgrund des Sparzwangs das Marketing auf ein Minimum heruntergefahren – und so Marktanteile gegenüber Redcare eingebüsst. Doch im vierten Quartal 2023 erzielte es erstmals wieder sowohl mehr Umsatz als auch steigende Kundenzahlen gegenüber dem Vorquartal. In den ersten drei Monaten 2024 setzte sich der positive Trend fort.

Mit dem nun scharf gestellten CardLink-Verfahren, das die Einlösung von E-Rezepten über die App so einfach wie noch nie macht, stehen sowohl DocMorris als auch Redcare vor entscheidenden Monaten. Die Halbjahresergebnisse dürften erstmals einen ungeschminkten Eindruck davon geben, ob das E-Rezept für die Online-Apotheken tatsächlich zu einer Wachstumsgeschichte werden kann. In Deutschland wird noch immer weniger als 1% der rezeptpflichtigen Medikamente online eingelöst, gemäss Analystenschätzungen ist der Markt für rezeptpflichtige Medikamente 50 bis 55 Mrd. € gross.

Branchenexperten gehen davon aus, dass der Online-Anteil in den nächsten drei bis fünf Jahren bis auf 10% steigen könnte. Sie beziehen sich dabei auf das Vorbild Schweden, wo das E-Rezept etabliert ist und die Online-Durchdringung mittlerweile bei etwas mehr als einem Zehntel liegt. Die Versandapotheken in Deutschland würden sich also einen Umsatzkuchen von bis zu 5,5 Mrd. € aufteilen.

Die 10% sind auch die offizielle Zielmarke von DocMorris. Intern sollen die langfristigen Erwartungen indes um einiges höher sein. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Stand heute niemand wissen kann, wie lange es dauern wird, bis die 10% – oder gar mehr – erreicht werden können. Das bringt die Frage der finanziellen Solidität aufs Tapet, sprich, wie viel Luft die Versandapotheken haben.

Bilanz wieder im Lot, aber…

Anders als noch vor zwei Jahren hat DocMorris heute durchaus finanziellen Spielraum. Mit dem Verkauf des Schweizer Geschäfts wurde sie praktisch über Nacht schuldenfrei. Durch den Erhalt einer ersten grosse Tranche aus dem Verkauf des Schweiz-Geschäfts an Migros erhöhte sich die Eigenkapitalquote von 32% (2022) auf knapp 50% (Stand Ende 2023). Im Laufe von 2024 folgen noch eine Zusatzzahlung von Migros sowie der Verkauf einer Liegenschaft in Frauenfeld, wodurch mit weiteren Zuflüssen in hoher zweistelliger Millionenhöhe zu rechnen ist.

Dennoch müssen die Aktionäre von DocMorris in den Augen von Stephan Sola, Manager des Plutos Schweiz Fund, weiterhin auf finanzielle Massnahmen gefasst sein, wenngleich er eine Kapitalerhöhung für äusserst unwahrscheinlich hält. Aber: «Solche Übungen wie die Platzierung einer neuen Wandelanleihe vor zwei Wochen sind immer möglich.»

Mit der neu platzierten Wandelanleihe mit einer Laufzeit bis 2029 nahm das Unternehmen 200 Mio. Fr. ein und kaufte eine bis 2025 laufende Wandelanleihe im Umfang von 175 Mio. Fr. vorzeitig zurück. Der Aktienkurs brach am selben Tag um knapp 8% ein. Solche Sorgen haben die Aktionäre von Redcare weniger, die Gesellschaft arbeitet auf Stufe Ebitda profitabel.

Auch für ZKB-Analyst Werro ist eine Kapitalerhöhung bei DocMorris unwahrscheinlich, ausschliessen könne man sie aber nicht. «Es kommt darauf an, wie die Banken die Situation einschätzen. Sollte der Umsatz doch langsamer an Dynamik gewinnen als gedacht, könnte eine Kapitalerhöhung wieder zum Thema werden.» Nach der jüngsten Refinanzierung attestiert Werro DocMorris aber genug Luft für die nächsten Jahre, um das Geschäft mit rezeptpflichtigen Medikamenten ohne weitere Fremdmittel voranzubringen.

Darauf kommt es nun an

Worauf kommt es denn nun an? Für Sola geht es bei DocMorris jetzt darum, «das Feld zu pflügen und Marktanteile zu gewinnen». Die Sorge, dass die im Zuge der CardLink-Lösung voraussichtlich steigenden Marketingausgaben kurzfristig das Ergebnis belasten und somit Druck auf die Aktien ausüben könnten, teilt er nicht. Erstens wisse der Markt, dass das Marketing jetzt massiv vorangetrieben werde.

«Zweitens sollte DocMorris den Vorteil jetzt auch nutzen, den sie sich mit der schnelleren Lancierung der App-Lösung verschafft hat», sagt Sola. Für den Aktionär sei es zu begrüssen, dass die Schweizer nun alles daransetzen, Kunden zu gewinnen. Dass DocMorris die Guidance eines (bereinigten) Ebitda-Verlusts von 35 Mio. Fr. bis 0 Fr. (Break-even) erreichen werde, daran zweifle er nicht.

Für Baader-Analyst Bosse ist es von grosser Bedeutung, wer in der jetzigen Phase liefert und vom Kunden besser wahrgenommen wird. «Je nachdem können sich die Kräfteverhältnisse auch wieder verschieben.» Sowohl DocMorris als auch Redcare hätten das Potenzial, ihren Umsatz zu vervielfachen. «Das Rennen ist nochmals neu eröffnet», sagt er.

Bewertungstechnisch sind die DocMorris-Aktien aufgrund noch ausbleibender Gewinne und der nur schwer zu prognostizierenden Geschäftsentwicklung schwierig einzuordnen. Für Sola ist die Aussagekraft von Bewertungsmodellen in der jetzigen Situation denn auch überschaubar. «Für mich entscheidend sind jetzt folgende Fragen: Wie entwickelt sich der Marktanteil bei rezeptpflichtigen Medikamenten, und erfüllt DocMorris ihre Guidance?»

Entscheidende Monate

Sicher ist: Der Kuchen ist gross genug für beide Online-Apotheken. Der Vorwurf, dass man gegenüber stationären Apotheken strukturell im Nachteil sei, war in der Vergangenheit berechtigt. Jetzt gibt es jedoch keine Ausreden mehr. Es liegt nun an DocMorris und Redcare, entsprechend zu liefern.

In den letzten sechs Monaten hat bei den DocMorris-Aktien eine Erholungsrally stattgefunden. Dass Redcare (Marktkapitalisierung: 2,6 Mrd. €) an der Börse noch immer mehr als doppelt so viel wert ist wie die Schweizer (1,2 Mrd. €), spricht angesichts der langfristigen Aussichten dafür, dass bei Letzteren noch Aufholpotenzial besteht.

Dennoch ist ein Engagement in DocMorris wegen des höheren Anteils des Umsatzes mit rezeptpflichtigen Medikamenten riskanter. Wer bei seiner Wette auf den Online-Apothekenmarkt in Deutschland das Verlustrisiko beschränken möchte, dem empfiehlt The Market wie schon vor zwei Jahren, auf die Aktien von Redcare zu setzen.

Exit mobile version