Wenn Besucher sich vor ägyptischen Mumien in Vitrinen gruseln, hat das keinen pädagogischen Wert. Tote Menschen auszustellen, ist respektlos und widerspricht der Intention derer, die sie einst begraben haben – egal, wie viele tausend Jahre das schon her ist.
Die, die ihn begruben, liessen keinen Zweifel daran, was sie dem Toten wünschten. Auf dem Schriftstück, das die Ägypter Montsuef ins Grab legten, stehen klare Worte: «Dein Geist wird sich in deinem Körper verjüngen, während du in deinem Sarg ruhst.» Kein Wort davon, dass Montsuef nackt in einem Glaskasten liegen und sich von Schulkindern angaffen lassen sollte.
Genau das ist aber die Situation, in der sich viele Tote aus dem Altertum heute befinden. Es ist Zeit, damit aufzuhören. Tote Menschen in Vitrinen auszustellen, macht sie zu Objekten. Es entmenschlicht sie, und es nimmt ihnen die Würde.
In der westlichen Welt wachsen die meisten Menschen mit einem durch Museumsbesuche, Fernsehdokumentationen und Ähnliches vermittelten Gefühl auf: dass es ihnen selbstverständlich zusteht, die menschlichen Überreste von anderen zu sehen, zumal solche aus archäologischen Kontexten. Als ein Museum in England vor einigen Jahren die Mumien in den Vitrinen mit Tüchern abdeckte, hagelte es empörte Kritik von Besuchern. Umfragen haben immer wieder ergeben: Museumsbesucher finden gut, dass menschliche Überreste ausgestellt werden.
Dieser Umstand wird auch als Argument dafür angeführt, weshalb die Praxis als unproblematisch gelten kann. So heisst es im Leitfaden des Deutschen Museumsbundes, die Präsentation von menschlichen Überresten in Museen sei in Europa kulturell und gesellschaftlich «bereits sehr lange weitestgehend akzeptiert». Kulturell und gesellschaftlich weitestgehend akzeptiert ist aber auch zum Beispiel in Afghanistan, Mädchen und Frauen zu unterdrücken. Ethisch fragwürdig ist es trotzdem.
Denn die Umfragen zeigen auch, dass die allerwenigsten Befragten als Beispiel für menschliche Überreste an Mumien denken. Mumien, so scheint es, werden als Objekte wahrgenommen wie Schmuckstücke oder Keramikgefässe auch. Sie werden nicht als das gesehen, was sie sind: tote Menschen, Individuen.
Bis ins 20. Jahrhundert galten gemahlene Mumien als Medikament
Die Objektifizierung der Toten hat eine lange Tradition. Bevor mumifizierte Tote aus Ägypten verschleppt wurden, um Museen zu füllen, waren sie als medizinische Zutat gesucht. Seit dem 12. Jahrhundert schworen Europäer auf ein Pülverchen, das alles Mögliche heilen sollte und natürlich genau gar nichts heilte; wie sollte es auch, es waren Tausende Jahre alte zermahlene Leichname aus ägyptischen Gräbern. Besonders begehrt waren schwarz verfärbte Körper; die Farbe, vermutete man, rühre von der Einbalsamierung mit Bitumen her, persisch «mumiya». Das Pharmaunternehmen Merck fertigte bis 1924 «Mumia» für den Apothekenverkauf, Preis: 12 Goldmark pro Kilo.
Anfang des 19. Jahrhunderts wurde es in den vornehmen europäischen Salons populär, Freunde und Bekannte zum Mumienauswickeln einzuladen; fuhr man nach Ägypten, brachte man eine Mumie mit. Europäer, allen voran der berüchtigte Raubgräber Giovanni Belzoni, plünderten die archäologischen Stätten Ägyptens regelrecht aus und nahmen mit, was ihnen gefiel.
Aus diesen zweifelhaften Gründen sind die ägyptischen Toten nach Europa und in dortige Museen gekommen. Aber warum sind die Besucher dort?
Was sie in Scharen zu den Vitrinen mit den toten Körpern lockt, ist die Lust am Grusel – und ein als Wissbegier getarnter Voyeurismus, eine Lust an Einblicken in die Intimität eines anderen Menschen, die einem eigentlich nicht zustehen.
Viele der ausgestellten Toten sind nackt, weil sie ausgewickelt wurden. Das British Museum in London zeigt den Körper eines im trockenen Wüstensand bestatteten und dadurch auf natürliche Weise mumifizierten Mannes aus Gebelein in Ägypten. Er liegt mit angewinkelten Beinen beinahe auf den Knien. Erst seit wenigen Jahren verhindert eine strategisch platzierte Steinplatte, was 100 Jahre lang jeden Tag passierte: dass sich Schulkinder die Nasen an der Glasscheibe platt drückten und dem Toten direkt in den Anus schauen konnten. Egal, wie lang dieser Mensch schon tot ist – das ist entwürdigend.
Das Recht auf Menschenwürde auch nach dem Tod gilt universell. Geht es um Archäologie, gibt es aber noch einen weiteren Punkt zu berücksichtigen, und das ist Respekt vor dem Menschen und vor der Gesellschaft, in der der Tote gelebt hat.
Die Zurschaustellung der Leiche bedeutete für die Ägypter Verdammnis
Im April 1925 besuchte der Schriftsteller Thomas Mann die Gräber im Tal der Könige bei Theben. «Das Gefühl beschämender Indiskretion verlässt einen bei keinem Schritt», notierte er. «Diese Menschen haben ihr Leben lang darauf gesonnen und keine Vorkehrung unterlassen, um genau das zu verhindern, was jetzt geschieht. Es ist ein Jammer im Grunde.»
Manchmal heisst es als Rechtfertigung für die Zurschaustellung der Leichen, zum Totenkult der Ägypter habe auch die Interaktion mit dem Toten gehört. Aber wenn der Wunsch nach Interaktion umfasst hätte, dass man dem Toten ständig ins ledrige Angesicht oder in die Körperöffnungen schaut, dann hätten sie ihn nicht in fünf ineinander geschachtelte Särge und einen Steinsarkophag verpackt und in eine versiegelte Grabkammer gesteckt.
Besonders das Ausgewickeltsein, das Zurschaugestelltsein des nackten Körpers widerspricht allem, was die Ägypter sich wünschten. Sogar in ihren Bildern wurde anstelle des Toten meist der Sarg dargestellt. Wenn der Tote gezeigt wurde, dann immer nur als bereits mumifiziert – also bereits in eine neue, ewige Wesenheit transformiert. Als Leichen wurden nur die abgebildet, die kein ewiges Leben haben durften, nämlich Sünder oder Feinde. Einen Ägypter als Leiche auszustellen, bedeutet, ihn zu verdammen.
Das lässt sich auch nicht mit dem Argument rechtfertigen, dass Museumsbesucher durch die Betrachtung der ausgewickelten Leiche etwas lernen könnten. Wie Mumifizierung funktioniert, lässt sich in virtuellen Animationen viel besser zeigen. Wissen über eine Religion und Kultur lässt sich nicht sinnvoll vermitteln, wenn man ihre Inhalte und Ziele fundamental ignoriert und ihnen zuwiderhandelt.
Ein besonders krasses Beispiel auf Schweizer Boden ist die Leiche der Schepenese, die ausgewickelt und ohne jede Kontextualisierung in der St. Galler Stiftsbibliothek ausgestellt wird. Der in diesem Jahr verstorbene Ägyptologe Jan Assmann sagte in einem Interview, er sei entsetzt, wie «eine barocke Stiftsbibliothek sich an einem Objekt europäischer Habgier ergötzt». Schepenese werde «zu einem Kuriosum mit Grusel-Effekt herabgewürdigt».
Museen können mumifizierte Tote ausstellen – aber nicht so
Respektvolle Behandlung bedeutet nicht, dass nun alle ägyptischen Mumifizierten aus den Vitrinen genommen werden müssen. Ein kaltes Regal im Museumsdepot ist wahrlich auch nicht das Jenseits, das die Ägypter sich erhofft haben.
Das Museum der Rhode Island School of Design in Providence in den USA hat eine gute Lösung gefunden. Seit 1938 ist es im Besitz der Überreste eines Priesters namens Nesmin, der vor 2100 Jahren gestorben ist. Lange war er, immerhin eingewickelt, neben seinem Sarg ausgestellt. Nach einer öffentlichen Debatte wurde Nesmin zurück in seinen Sarg gelegt und der Deckel geschlossen.
Es wäre das Allermindeste, das in allen Fällen umzusetzen, in denen es noch einen zugehörigen Sarg gibt. Ausserdem sollte es Besuchern durch Zugangsbeschränkungen und Beleuchtung unmöglich gemacht werden, Selfie-schiessend an den Toten vorbeizurennen. Wer sich entscheidet, den Sarg mit den darin befindlichen, aber unsichtbaren menschlichen Überresten sehen zu wollen, sollte sich genügend Zeit nehmen müssen. Dabei sollten Museen selbstverständlich transparent machen, warum sie ihre Exponate so ausstellen.
Der Name garantiert den Ägyptern das ewige Leben
Den Ägyptern war es extrem wichtig, dass der Körper nach dem Tod erhalten blieb. Denn nach ihrer Vorstellung braucht der Ba, eine nichtphysische Wesensform des Menschen, für das ewige Leben nach dem Tod eine Basis, in der er immer wieder wohnen kann. Das ist der Grund, weshalb die Toten einbalsamiert wurden.
Die Ägypter waren aber, vielleicht durch leidvolle Erfahrung, auch pragmatisch. Sie wussten: Keine Pyramide, kein königliches Siegel an der Tür und keine noch so vielen Wächter hatten je verhindert, dass Gräber aufgebrochen und geplündert und die mumifizierten Körper aus den Särgen gerissen wurden. Sie begannen deshalb, auch Statuen der Verstorbenen in die Gräber zu stellen, die notfalls als Ersatz für den Körper dienen konnten.
Weil aber auch Statuen zerschlagen werden können, gibt es für den Ba noch eine allerletzte Möglichkeit. Wenn alles zerstört ist, das Grab, die Statue, der Körper, kann er Zuflucht finden im Namen des Toten. Ein Mensch lebe, wenn sein Name genannt werde, heisst es im sogenannten Totenbuch, dem altägyptischen Reiseführer fürs Jenseits.
Respekt erweist man der Kultur des alten Ägypten also am besten, indem man den Toten in seinem Sarg ruhen lässt, wie es im Papyrus des eingangs erwähnten Montsuef heisst. Und dann, am besten mehrmals hintereinander, spricht man seinen Namen aus, laut und deutlich, und er wird kein totes Objekt mehr sein, sondern leben.