Nach dem Giro-Sieg wird vom Slowenen in Frankreich das Double erwartet. Pogacar drohen teamübergreifende Allianzen gegen ihn – und Dissonanzen im eigenen Team.

Es war einmal ein Mythos im Radsport. Im gleichen Jahr den Giro d’Italia und die Tour de France zu gewinnen, galt in diesem Jahrtausend als Ding der Unmöglichkeit.

Wann immer sich die Sieger der Italienrundfahrt wenige Wochen später in Frankreich am Double versuchten, scheiterten sie krachend. Gilberto Simoni verlor 2003 mehr als zweieinhalb Stunden. Denis Mentschow landete 2009 auf Rang 51. Ivan Basso war 2010 an der Tour nicht wiederzuerkennen, Alberto Contador dort 2011 nur noch ein Schatten seiner selbst. Ryder Hesjedal gab 2012 nach einer Woche auf. Chris Froome unterlag 2018 seinem Teamkollegen Geraint Thomas.

Marco Pantanis bisher letzter Doppelerfolg im Jahr 1998 galt im Nachhinein eher als Mahnmal, denn der Italiener dopte sich in jener Zeit mit sämtlichen Substanzen, die ihm zur Verfügung standen. Und unmittelbar danach stürzte er in eine Lebenskrise, die fünf Jahre später mit dem frühen Tod ein tragisches Ende fand. Etwas zugespitzt lässt sich festhalten: Über dem Giro-Tour-Double liegt ein Fluch.

«Auf dem Rad noch nie so gut gefühlt»

Im Jahr 2024 scheint der Mythos Geschichte zu sein, bevor das grösste Radrennen der Welt überhaupt begonnen hat. Als sei es das Selbstverständlichste der Welt, erklären die Experten in diesen Tagen Tadej Pogacar zum Favoriten der Frankreichrundfahrt, die am Samstag in Florenz beginnt. Der Slowene hat zwar den Giro in den Beinen. Er wirkte dort und in allen anderen Rennen des Jahres aber derart souverän und locker, phasenweise fast unterfordert, dass kaum jemand glaubt, seine Kräfte könnten nun plötzlich nachlassen.

An der Strade Bianche im März siegte Pogacar nach einem 82-Kilometer-Solo. An der Katalonienrundfahrt im April attackierte er und wartete hinter einem Busch, bis das Feld vorbeigefahren war, und trotz Possen dieser Art gewann er vier von sieben Etappen sowie die Gesamtwertung. Am Giro war schliesslich zu beobachten, wie die Konkurrenten nicht einmal mehr versuchten, mitzuhalten, sobald er das Tempo forcierte.

Sein Manager im Team UAE, Joxean Fernández Matxín, bluffte zuletzt noch ein wenig. Er erklärte den Sieger der Austragungen 2022 und 2023, Jonas Vingegaard, trotz seinem schweren Sturz im April zum Favoriten. Pogacar sei nach dem Giro müde gewesen, behauptete Matxín.

Pogacar selbst hat keine Lust auf Psychospielchen dieser Art. «Es sieht aus, als hätte ich seit dem Giro einen Schritt nach vorn gemacht», sagte er am Mittwoch in einem Interview. Seine Form sei sogar besser als erwartet. «Um ehrlich zu sein, habe ich mich auf dem Rad noch nie so gut gefühlt.» Die Mannschaft UAE veröffentlichte das Gespräch in diesem Wortlaut auf ihrer Website. Was nebenbei zeigt: Pogacar setzt sich momentan sogar gegen teaminterne PR-Strategen durch, die ihm lieber ein gewisses Understatement auferlegen würden.

Auch eine Covid-Infektion in der finalen Vorbereitung hat der 25-Jährige gut überstanden, bereits nach einem trainingsfreien Tag sass er wieder auf dem Velo. Manche schwenken nun bereits die weisse Fahne. «Die Tour wird innerhalb von drei oder vier Tagen entschieden sein, Pogacar wird das Feld zerlegen und Vingegaard hinter sich lassen», sagte beispielsweise der Chef des Teams FDJ, Marc Madiot, der Zeitung «L’Equipe».

Für Madiots Prognose spricht, dass die ersten Teilstücke so schwer sind wie selten zuvor. Am Samstag stehen sechs Berge der zweiten und dritten Kategorie auf dem Programm, am Sonntag kurz vor dem Ziel eine mehr als 10 Prozent steile Rampe. Am Dienstag überquert das Feld den 2642 Meter hohen Col du Galibier. Grössere Zeitabstände zwischen den Favoriten sind hier durchaus möglich. Und dennoch illustriert die Aussage des französischen Teamchefs vor allem, welch absurde Dimensionen die Erwartungen an Pogacar angenommen haben.

Er soll das Double vollenden und in dieser Hinsicht mit den grössten Legenden des Radsports gleichziehen, zum Beispiel mit Fausto Coppi, Eddy Merckx und Bernard Hinault. Ausserdem soll er seine Gegner schon in den ersten Tagen in Grund und Boden fahren. Und nebenbei soll er sich wie gewohnt kleinere Albernheiten im Start- und Zielbereich leisten, so viel Zeit muss auch auf einer historischen Mission bleiben.

Die Erwartungen könnten zum Problem werden. Pogacar auf und neben der Strasse zu reizen, nahezu jeden Tag ein Spektakel zu bieten, ist ein naheliegendes Manöver. Er soll sich die Prognosen zu Herzen nehmen und tatsächlich ab Samstag mit wilden Attacken Kräfte verschleudern, so die Hoffnung.

Obendrein ist es nicht selbstverständlich, dass Pogacar die uneingeschränkte Unterstützung des eigenen Umfelds erhält. In seinem bemerkenswerten Interview vom Mittwoch legte er offen, dass es im letzten Jahr Misstöne gegeben habe, die der Öffentlichkeit bisher verborgen geblieben waren. Viele Dinge seien in der Aufbauphase nach seinem Sturz am Rennen Lüttich–Bastogne–Lüttich nicht gut gelaufen, sagte er: «Ich sah, wer da war, um mir zu helfen, und wer es nicht war.» In der Vorbereitung auf die Tour de France 2023 sei «eine gewisse Enttäuschung und negative Energie» vorhanden gewesen.

Ob die teaminternen Probleme aus der Welt geräumt sind, liess er offen. Fest steht: Je länger ein Rennen wie die Tour de France dauert, desto mehr fallen atmosphärische Spannungen ins Gewicht. Unruhe könnte bei UAE beispielsweise entstehen, falls Pogacars Helfer Adam Yates und João Almeida, denen zuletzt an der Tour de Suisse ein Doppelerfolg gelang, eigene Ambitionen auf Podiumsplätze entwickeln.

Vingegaard durfte sich zwölf Tage nicht bewegen

Vieles spricht dafür, dass die Frankreichrundfahrt nicht wie von Madiot prophezeit in den ersten vier Tagen entschieden wird – sondern erst in den letzten drei. Das Schlusswochenende ist so schwer wie wohl nie zuvor. Am drittletzten Tag sind drei Pässe zu bewältigen, unter anderem der 2802 Meter hohe Cime de la Bonette. Am Samstag folgt eine weitere Bergetappe mit 4600 Höhenmetern und am Sonntag ein welliges Zeitfahren von Monaco nach Nizza.

Das Finale liegt Vingegaard: 2022 fügte er Pogacar auf einer hochalpinen Etappe eine entscheidende Niederlage zu, 2023 distanzierte er ihn in einem ebenfalls welligen Zeitfahren. Ausserdem könnte dem Dänen zugutekommen, dass ihm bis zum abschliessenden Showdown noch Zeit bleibt, die Form unterwegs zu verbessern.

Im April hatte sich der Captain des Teams Visma an der Baskenlandrundfahrt mehrere Rippen und das Schlüsselbein gebrochen, ausserdem kollabierte seine Lunge. Zwölf Tage lang durfte er sich im Spital nicht bewegen. Erst vier Wochen nach dem Unfall war wieder an Training zu denken.

Die Vertreter seines Teams betreiben keine Koketterie, wenn sie die Erwartungen dämpfen und immer wieder betonen, Vingegaard könne nicht auf dem Niveau der vergangenen zwei Jahre sein. Er selbst bezeichnet es als Erfolg, an der Startlinie zu stehen. Alles andere sei ein Bonus.

Zu allem Überfluss war der Sturz des Dänen kein singuläres Ereignis, das Team Visma ist in der laufenden Saison vom Pech verfolgt. Die Helfer Dylan van Baarle und Steven Kruijswijk fallen verletzt aus. Zuletzt musste der Vuelta-Sieger Sepp Kuss passen, ihn hat Covid härter erwischt. Ersetzt wird er durch Bart Lemmen, einen ehemaligen Armeekommandanten, der 28-jährig erstmals für ein Team der höchsten Kategorie fährt. Visma tritt im wahrsten Wortsinn mit einem Team von Reservisten an.

Entscheidend könnte sein, ob Pogacars Gegner bereit sind, temporäre Allianzen zu bilden. 2022 gelang es Visma, den Slowenen auf dem Weg zum Col du Granon mit wechselnden Attacken zu zermürben. 2024 dürfte die Dichte des Kaders diese Strategie nicht erlauben. Anders sähe es aus, wenn sich beispielsweise der Belgier Remco Evenepoel sowie Vingegaards ehemaliger Teamkollege Primoz Roglic beteiligten. Der Slowene fährt nun für die neu mit Red Bull kooperierende Mannschaft Bora, doch eine Zusammenarbeit könnte beiden nützen.

Vingegaard hat sich jede Kurve des 33,7 Kilometer langen Zeitfahr-Parcours verinnerlicht, auf dem die Tour de France am 21. Juli endet. Er will seinen Sieg im Vorjahr wiederholen, trotz allem. Und er könnte den Mythos wiederaufleben lassen: Das Double ist eben doch verdammt schwer zu schaffen.

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