Dienstag, November 26

Sai Aung Main / AFP

Myanmar war einst ein Geheimtipp für Reisende, ein Symbol für den globalen Siegeszug der Demokratie. Die Geschichte vom Aufstieg und Zerfall einer Nation.

Plötzlich wollten alle nach Myanmar. Reisebüros warben mit «verborgenen Schätzen» in einem «goldenen Land». Sie erwarteten einen Boom, nachdem sich das Land 2011 geöffnet hatte, und der Boom folgte bereits im Jahr darauf. Myanmar stand bei Rucksackreisenden und Reisegruppen auf der Liste, sie erklommen Tempelberge, bestaunten Pagoden, während sie mit dem Schiff den Fluss Irrawaddy hinuntertuckerten.

Lange abgekapselt, zwischen den Riesen Indien und China eingebettet, aber kulturell doch sehr eigenständig, öffnete sich den Besuchern Myanmars eine weitgehend unberührte Welt. Massentourismus spielte sich im Nachbarland Thailand ab, Myanmar demgegenüber galt noch immer als ursprünglich und geheimnisvoll.

Zu den Personen, die dieses Reisefieber packte, gehört die schweizerisch-französische Doppelbürgerin Nathalie Manac’h. Sie zog 2015 mitten in der Aufbruchstimmung nach Myanmar und erlag prompt dem Charme des Landes. Und mit ihrer Passion erkannte sie auch die Chancen: Sie baute in den nördlich gelegenen Shan- und Chin-States ein Geschäft mit Kaffeeplantagen und Röstereien auf. Es lief hervorragend.

Dank der Hilfe eines schweizerischen Touristikunternehmens wurde ihre Kaffeefarm zur Reisedestination, wo Wanderungen, Degustationen und enge Kontakte mit der gastfreundlichen Bevölkerung angeboten wurden. «In der Hauptsaison von November bis April haben wir damals mehr Geld mit Besuchern aus der Schweiz verdient als mit dem Kaffeegeschäft», sagt sie im Gespräch.

Das goldene Jahrzehnt und die «Lady»

Es ist letztlich der jahrzehntelangen Abschottung durch Militärregierungen zuzuschreiben, dass sich der Besucher in Myanmar anfänglich wie in einer Zeitreise vorkam. Ins Blickfeld rückten dabei alte buddhistische Traditionen, ethnische Minderheiten, architektonisches Erbe aus der Kolonialzeit, unberührte Natur und – in ländlichen Gebieten – leider auch Lebensumstände und Entbehrungen fast wie im Mittelalter.

Das änderte sich mit dem Demokratisierungsprozess ab 2011 nicht über Nacht. Trotzdem brach für das Land insgesamt ein goldenes Jahrzehnt an. Mit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Thein Sein zeichnete sich ein behutsamer Öffnungskurs ab, der Land und Nation rasch verändern sollte. Mit jedem Jahr strömten mehr Touristen, Geschäftsleute und Diplomaten ins Land; Reisewarnungen wurden gestrichen und Sanktionen sukzessive aufgehoben. Über den weltberühmten Tempeln von Bagan schwebten bald Heissluftballone für eine kaufkräftige Kundschaft, die von oben auf das Paradies herabschaute, im Stundentakt für 300 Dollar pro Person.

Geschäftsleute witterten ob des Nachholbedarfs ein riesiges Potenzial, und Hotels erschienen in neuem Glanz. Diplomaten, die einen noch skeptisch, die anderen bereits euphorisch, wurden Zeugen eines unerwarteten demokratischen Aufbruchs. Zuvor war Yangon (und die aus dem Boden gestampfte neue Hauptstadt Naypyidaw) eher ein Posten für hartgesottene Botschafter gewesen. Nun folgten auf dem diplomatischen Parkett unversehens Rang und Namen. «Gucci-Diplomaten» nannte man jene mit Chic, Charme und Cocktails vertrauten Attachés.

Die Faszination von Burma, wie das Land vor, während und noch lange nach der Kolonialzeit hiess, hat nicht nur mit idyllischen Orten wie dem Inle-See, der an ein Freilichtmuseum gemahnenden Pagodenstadt Bagan oder der generellen Liebenswürdigkeit der Menschen zu tun. Die Anziehungskraft des Landes ab 2011 stand auch im Zusammenhang mit der Ausstrahlung der «Lady», Aung San Suu Kyi.

Ein jähes Erwachen

Die Tochter des Unabhängigkeitshelden Aung San, die immer wieder unter Hausarrest stand, bewegte sich eloquent im Osten wie auch im Westen, wo sie studiert und lange gelebt hatte und wo ihre Söhne aufwuchsen. Sie personifizierte die Öffnung des Landes, nährte die Hoffnungen der Bevölkerung und faszinierte die Welt. Vor allem den Westen, der damals – 2011 – immer noch etwas naiv an den globalen Siegeszug der Demokratie glaubte, unter anderem im Zusammenhang mit dem fast zeitgleich anbrechenden Arabischen Frühling in Nordafrika.

Oder vielleicht ist an dieser Stelle ein Vergleich mit dem Prager Frühling von 1968 oder dem Ruf nach Freiheit 1980 in Warschau treffender, denen Kriegsrecht folgte. Jedenfalls gab es auch in Myanmar ein jähes Erwachen: In den Morgenstunden des 1. Februar 2021 putschte die Armee und verhaftete Suu Kyi. Panzer fuhren auf, die alten Machthaber verhinderten die konstituierende Sitzung des neuen Parlaments und verhängten den Notstand. Das Märchen, das ein Jahrzehnt zuvor begonnen hatte, ging über Nacht zu Ende. Tagelang herrschte Schockstarre. Dann begannen in Yangon und Mandalay Massendemonstrationen, denen bald – wie schon 1988, 1990 und 2007 – Verhaftungen und Schüsse gegen Protestierende folgten.

Mit dem Militärputsch vor dreieinhalb Jahren veränderte sich in Myanmar alles. Man kehrte in alte Zeiten zurück: Zahlreiche internationale Investoren, die zuvor an eine nachhaltige Öffnung und Demokratisierung des Landes geglaubt hatten, zogen ab. Der Volksaufstand, der mehrere Wochen dauerte, wurde von Militär und Polizei brutal unterdrückt. Und natürlich platzte damit auch der Tourismusboom. Er hatte dem Land zuvor jährlich bis zu vier Millionen Besucher beschert und machte 2019 fast 7 Prozent der Wirtschaftsleistung aus. Die Resorts am Ngapali Beach am Indischen Ozean, wo den Besucher verlockende Strände erwarteten, sind wie ausgestorben.

Für Reiseanbieter und die meisten Investoren, die während eines Jahrzehnts auf das schlummernde Potenzial des südostasiatischen Landes gesetzt hatten, ist Myanmar seit 2020 praktisch von der Landkarte verschwunden. In jenem Jahr sorgte die Corona-Krise für einen Einbruch, ein Jahr später kam der Militärputsch. Laut Luzi Matzig, dem Gründer und Hauptaktionär des Touristikunternehmens Asian Trails, ist die Nachfrage auf null gesunken. Dessen Mitarbeiter in Yangon hält man bis auf weiteres mit Leistungen für andere asiatische Destinationen über Wasser.

In Industrieparks wie der wirtschaftlichen Sonderzone Thilawa am Rand der Metropole Yangon herrscht jetzt Ernüchterung und Leere. Die meisten der über hundert ausländischen Investoren – viele davon aus Europa, den USA, Japan und Korea – haben ihr Engagement reduziert. Das Geschäftemachen mit dem diktatorischen Regime ist seit dem Putsch wieder verpönt, der Absatz ist eingebrochen, und Stromversorgung und Logistikketten sind gestört.

Um zehn Jahre zurückgeworfen

Geschäftsleute, die geblieben sind, klagen über einen massiv eingeschränkten Bewegungsspielraum. Selbst Armeeangehörige und deren Familien seien verunsichert. Der Grund: Seit Oktober 2023 rücken Rebellen und Bürgerwehren, die sich nach dem Coup d’Etat zu formieren begannen, vor. Sei drängen die Armee immer mehr zurück. Aus der Stadt Lashio im Norden musste die Armee schon vor Wochen weichen. Weitere Städte sind bereits in den Händen der Aufständischen.

Mandalay, die zweitgrösste Stadt des Landes, könnte als Nächstes fallen. Dort wartet eine gut organisierte Bürgerallianz bereits auf ihre Stunde. Damit wäre der Bürgerkrieg im myanmarischen Kernland angekommen.

Für Ausländer hat sich durch den dreieinhalbjährigen Bürgerkrieg auch auf der psychologischen Ebene vieles verändert. Die frühere Offenheit gegenüber westlichen Personen sei verschwunden, heisst es. Man stosse heute zum Teil gar auf offene Ablehnung. Die internationale Staatengemeinschaft, so die verbreitete Meinung der Bevölkerung, habe das Land 2021 im Kampf gegen das Militärregime im Stich gelassen. Die Demokratiebewegung hatte sich mehr versprochen als Sympathien und Sanktionen gegen die Mörderbande um General Min Aung Hlaing. Dazu kommt, dass die meisten Einheimischen heute aus purer Angst vor Spitzeln, Verdächtigungen und Repressalien des Regimes den Kontakt mit Ausländern meiden.

Der Status quo ist niederschmetternd: enttäuschte Hoffnungen, Bürgerkrieg, Armut, Hass auf Armee und Regime sowie ein Westen, der die Augen verschliesst. Myanmar ist um zehn Jahre zurückgeworfen worden, und eine hoffnungsvoll herangewachsene Generation wird ihrer Jugend und Träume beraubt. Wer kann, setzt sich ab, auch um der Zwangsrekrutierung durch die Armee zu entgehen, und sucht Arbeit, vorzugsweise in Thailand, Hongkong oder Singapur.

Und wie geht die Kaffeeproduzentin Nathalie Manac’h mit der Zuspitzung der Lage um? Sie geht nicht davon aus, dass Myanmar ganz im Chaos versinken wird. Früher oder später werde sich das Land wieder öffnen und dann erneut Besucher und Investoren anziehen. Aufgrund der derzeit prekären Sicherheitssituation im Hochland und in Mandalay verbringt sie aber längere Abschnitte in der ehemaligen Hauptstadt Yangon oder verfolgt die Veränderungen aus dem angrenzenden Ausland.

Steht die Wende kurz bevor?

Klar ist inzwischen, dass die Rechnung der alten Generäle mit dem Putsch nicht aufgegangen ist. Der Staatsstreich hat die Armee als Besetzungsmacht entlarvt. Die Verluste sind hoch, und die Moral der Truppen ist angeschlagen. Schätzungsweise die Hälfe des Staatsgebiets wird inzwischen von Rebellen oder den Bürgerwehren kontrolliert. Nach dreieinhalb Jahren ist eine Wende deshalb nicht mehr auszuschliessen. Die Gegner der Armee stossen Richtung Süden und drängen vom Nordosten her ins Zentrum. Der Armeeführung verbleibt ein Rückzug ins Reduit der Hauptstadt Naypyidaw und ins Flachland von Lower Burma, dem Kerngebiet der ethnischen Burmesen.

Das muss militärisch noch nicht das Ende der Generäle bedeuten. Aber der Mythos der Unbesiegbarkeit ist gebrochen, und mit ihrem Terror gegen die Zivilbevölkerung hat die Armeeführung ihren letzten Kredit verspielt. Selbst China, das den Generälen bisher die Stange hielt, ist besorgt und sondiert seit Wochen in Naypyidaw, jüngst durch Aussenminister Wang Yi persönlich. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, dann steht das Land erneut vor einer Weichenstellung. Myanmar ist am Boden – und es kann wieder aufstehen.

Exit mobile version