Nach dem Rückzug von Joe Biden ist Kamala Harris die einzige Demokratin, die bisher ihren Hut ins Rennen geworfen hat. Doch ihr fehlt noch der Rückhalt wichtiger Parteigrössen.

Joe Bidens Rückzug aus dem Präsidentschaftswahlkampf hat die amerikanische Politik einem Erdbeben gleich erschüttert. Obwohl Demokraten 24 Tage lang, also seit Bidens desaströser Fernsehdebatte mit Trump, den Präsidenten zu dem Schritt gedrängt hatten, schien der Zeitpunkt der Ankündigung die Demokraten zu überraschen. Noch Minuten zuvor hatte Bidens Wahlkampfteam Spendenaufrufe an Anhänger geschickt, mit der Bitte, «Joe Biden wiederzuwählen».

Ein Blick auf die Portemonnaies zeigt aber, dass die demokratische Basis den Schritt offenbar begrüsst: Stolze 50 Millionen Dollar an Spenden für demokratische Kandidaten gingen am Sonntag bis 22 Uhr amerikanischer Ostküstenzeit ein. Gemäss einer Analyse der «New York Times» war das der bis dato grösste Betrag, den die Demokraten seit dem Wahljahr 2020 an einem einzigen Tag eingenommen haben.

Die Gefühlslage in der Partei reichte am Sonntag von Dankbarkeit bis Verzweiflung. Den Tränen nahe, verglich der politische Analyst Van Jones auf CNN Biden mit einem Grossvater, dem man die Autoschlüssel habe wegnehmen müssen, weil er zu alt zum Fahren geworden sei. «Und wenn du die Schlüssel endlich hast, dann weinst du einfach nur», sagte Van Jones mit Blick auf Bidens Rückzugsentscheid. «Ein wahrer Held», schrieb der «New York Times»-Kolumnist Ezra Klein auf der Plattform X.

See Van Jones’ emotional reaction to Biden’s withdrawal

Viele offene Fragen bleiben

Dass sich ein Kandidat freiwillig so spät aus dem Rennen zurückzieht, ist in der amerikanischen Geschichte präzedenzlos. Im amerikanischen Kabelfernsehen diskutierten die Demokraten die Folgen entsprechend rauf und runter. Viele Fragen sind nun offen: Was geschieht mit den Stimmen für Biden beim Nominierungsverfahren? Kann der neue Kandidat oder die neue Kandidatin noch in allen Gliedstaaten auf den Wahlzetteln erscheinen? Was geschieht mit den Geldspenden, welche an Joe Biden geflossen sind?

Letztere Frage ist bereits beantwortet. Gestern überwies die Biden-Kampagne die 96 Millionen Dollar an Kamala Harris. Die Kampagne wurde bei der nationalen Wahlkommission FEC umbenannt und heisst nun «Harris for President». Harris bestätigte kurz nach Bidens Rückzug, dass sie antreten werde, um die Nominierung «zu verdienen und zu gewinnen».

Im Laufe des Tages begannen sich unter den Demokraten die Reihen hinter Harris zu schliessen: Präsident Bill Clinton und seine Frau, die frühere Aussenministerin Hillary Clinton, sprachen sich für die Vizepräsidentin aus. Das war wenig überraschend, denn Hillary Clinton ist bekannt dafür, dass sie Harris seit ihrem Einzug ins Weisse Haus regelmässig berät.

Die Gouverneure von Kalifornien, Michigan, New Jersey und Pennsylvania – Gavin Newsom, Gretchen Whitmer, Phil Murphy und Josh Shapiro – stellten sich ebenfalls hinter Harris, ebenso der Verkehrsminister Pete Buttigieg. Das ist bemerkenswert, denn alle vier wurden als mögliche Konkurrenten im Kampf um die Kandidatur gehandelt.

Ebenso sprachen sich prominente Vertreter des linken Parteiflügels für Harris aus, unter ihnen etwa die Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez. Auch rührende Geldgeber der Partei wie die Gebrüder Soros stellten sich hinter die 59-Jährige.

Andere hielten sich am Sonntag noch zurück: Präsident Barack Obama, der mit Harris ein freundschaftliches Verhältnis pflegt, schrieb in einer Stellungnahme: «Ich bin absolut zuversichtlich, dass die Führer unserer Partei nun einen Prozess schaffen werden, an dessen Ende ein herausragender Kandidat steht.»

Ebenso hatte sich auch Nancy Pelosi, die langjährige Speakerin des Repräsentantenhauses und wie Harris aus der San Francisco Bay Area stammend, für einen offenen Wettbewerb um Bidens Nachfolge ausgesprochen. Auch der demokratische Mehrheitsführer im Senat, Chuck Schumer, und der Minderheitsführer im Repräsentantenhaus, Hakeem Jeffries, sprachen sich bisher nicht explizit für Harris als neue Kandidatin aus.

Wer wagt es noch, Harris herauszufordern?

Mit Spannung wird nun erwartet, ob doch noch ein weiterer Demokrat seinen Hut in den Ring wirft. Bis jetzt hatte jedoch kein wichtiger Demokrat Absichten artikuliert, Harris herauszufordern. Einzig der parteilose Senator Joe Manchin aus West Virginia sagte am Sonntag, er erwäge eine Kandidatur, wie das «Wall Street Journal» unter Berufung auf Manchins Umfeld schrieb. Der 76-Jährige war im Mai aus der Demokratischen Partei ausgeschieden und hatte angekündigt, nicht zur Wiederwahl als Senator anzutreten. In einem Interview mit dem Sender ABC am Sonntag sprach sich Manchin für einen Wahlkampf innerhalb der Demokraten aus: «Wie sonst wollen sie es schaffen, dass Demokraten wie ich für sie stimmen?»

Der Druck ist für die Demokraten gross, sich schnell auf eine neue Kandidatur zu einigen. Vermutlich befürchten mögliche Kandidaten, dass es von vielen demokratischen Wählern als Affront wahrgenommen würde, Harris als Bidens Kronzeugin, noch dazu als schwarze Frau, infrage zu stellen. Tatsächlich waren 15 der bis dato 46 amerikanischen Präsidenten zuvor Vizepräsidenten.

Entsprechend wurde am Sonntag bereits eine andere Frage diskutiert: Wen würde eine Präsidentschaftskandidatin Harris zu ihrem «Running Mate», also zum Kandidaten für das Vizepräsidentschaftsamt, auswählen? Laut dem «Wall Street Journal» telefonierte Harris am Sonntag bereits mit möglichen Kandidaten, unter ihnen Gouverneure wichtiger «Swing States», nämlich Roy Cooper aus North Carolina und Josh Shapiro aus Pennsylvania. Als weiterer aussichtsreicher Kandidat wird der Senator Mark Kelly aus Arizona, ein früherer Astronaut, gehandelt. Dessen Frau, die einstige Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords, war 2011 Opfer eines politischen Anschlags geworden und kämpft bis heute mit den Folgen.

Exit mobile version