Mittwoch, Januar 15

Der Marathon und seine Athletinnen und Athleten sorgten während und abseits der Wettkämpfe für zahlreiche Dramen.

Warum er? Warum musste der Begabteste sterben? Die hoffnungsvolle Zukunft des 24-jährigen Kelvin Kiptum, des erstaunlichsten Marathon-Talents der Geschichte, endete in einem Autowrack neben einer kenyanischen Landstrasse.

Die Strasse war Kiptums Laufbahn. In seinem erst dritten Marathon war der leichtfüssige Kenyaner im Oktober auf dem Asphalt von Chicago Weltrekord gelaufen, in 2:00:35 Stunden. Und im Frühjahr hätte er in Rotterdam die Zwei-Stunden-Marke brechen wollen.

Warum er? Asenath Cheruto, seine Frau und die Mutter der zwei gemeinsamen Kinder, sagte, er habe in den letzten Tagen über Erschöpfung geklagt und einen Sonntagsausflug abgesagt. Kiptum lief und lebte in über 2500 Metern Höhe und kam nur einen Tag in der Woche zur Familie auf 1600 Meter herunter.

Kiptums Vater Samson Cheruiyot hat eine gerichtliche Untersuchung des Unfalltodes beantragt. Er sagte, eine ganze Woche lang habe sich eine Gruppe von vier Unbekannten um Kiptums Wohnhaus herumgetrieben. Kiptum war auch ein Gejagter, eine neue Lichtgestalt, plötzlich umschwärmt von Geschäftemachern. Das Schuhmodell, das er beim Weltrekord trug, war innert Minuten ausverkauft.

Thomas Hicks liess sich mit Brandy einreiben und triumphierte trotz Schwächeanfall

Den ersten Marathon der Geschichte soll der Legende nach der Meldeläufer Pheidippides gelaufen sein. Er rannte laut dem Geschichtsschreiber Herodot im Jahre 490 v. Chr. in zwei Tagen vom Schlachtfeld Marathon nach Athen und brach nach dem Ausruf «Wir haben gesiegt!» (über die Perser) tot zusammen. Von Pheidippides’ Ende zu Kelvin Kiptum spannt sich ein makabrer Fluch.

Im Jahre 2011 stürzte Samuel Wanjiru, drei Jahre zuvor in Peking der erste kenyanische Marathon-Olympiasieger, nach einem Streit mit der Ehefrau betrunken von einem Balkon in den Tod. Auch er war ein früh Verbrannter, er wurde wie Kiptum nur 24 Jahre alt.

Langstreckenläufe waren schon vor 1900 populär – als Gegenstand von Wettgeschäften. Ins Programm der ersten Olympischen Spiele der Neuzeit 1896 in Athen übernahm der Gründer Baron Pierre de Coubertin den Marathon spontan nach zwei Probeläufen unmittelbar vor dem Grossanlass. Teilnehmen konnte, wer wollte; es meldeten sich die Sieger der Läufe über 100 m, 800 m und 1500 m, ein Ungar sowie 13 Griechen. Der einheimische Sieger Spyridon Louis wurde auf der letzten Stadionrunde von zwei Prinzen der Königsfamilie begleitet. Vergeblich hatte eine Frau, Stamata Revithi, versucht mitzumachen – angeblich lief sie die Distanz doch noch, aber erst am Tag danach.

1904 tauchte in St. Louis, schon ziemlich ausgezehrt, ein kubanischer Postbote auf. Félix Carvajal de Soto hatte sein mühsam erspartes Geld im Schiffskasino verjubelt, die 1100 Kilometer von New Orleans an den Start des Marathonlaufs legte er zu Fuss zurück – er wurde Vierter. Der Amerikaner Thomas Hicks führte nach halber Distanz, erlitt einen Schwächeanfall und päppelte sich mit rohen Eiern, gewürzt mit Strychnin, auf. Nach 32 Kilometern kollabierte er erneut, liess seine Beine mit Brandy einreiben, den Rest aus der Flasche schluckte er hinunter.

Mittlerweile hatte sich der Amerikaner Fred Lorz an der Spitze eingereiht, der während 10 Kilometern bequem in einem Begleitauto gesessen hatte und schon mit Alice Roosevelt, der Tochter des US-Präsidenten, in Siegerlaune posierte. Der Schwindel flog auf, als nach zehn Minuten der wahre Sieger eintraf. Hicks!

Den turbulenten Marathon von London 1908 beschrieb ein Reporter des «Daily Mail» namens Arthur Conan Doyle, der später weltberühmt wurde als Autor der Sherlock-Holmes-Kriminalromane. Der Hauptdarsteller war der Italiener Dorando Pietri, der als Erster ins Stadion einlief, zuerst in die falsche Richtung, völlig verwirrt kehrtmachte, mehrmals stürzte und von Helfern über die Ziellinie geleitet wurde. Er wurde nachträglich disqualifiziert.

Als 1984 in Los Angeles endlich auch die Frauen auf der Marathon-Distanz zugelassen wurden, wiederholte sich das Pietri-Drama. Nicht die Siegerin Joan Benoit, sondern eine Unbekannte auf den hinteren Rängen, die Schweizerin Gaby Andersen-Schiess, fesselte das Publikum. Sie hatte es verpasst, genug Wasser zu trinken und war völlig dehydriert, als sie im Delirium ins Stadion torkelte. Sieben Minuten dauerte der erschreckende Auftritt, wie sie schwankend die Helfer wegscheuchte. War das bewundernswert heroisch oder selbstmörderisch? Sie hatte 41 Grad Fieber, aber nach einigen Stunden gaben die Ärzte Entwarnung.

Als Schweizer Marathon-Aushängeschild galt indes Franziska Rochat-Moser, die 1997 den New York Marathon gewann. Die Juristin war mit dem Drei-Sterne-Koch Philippe Rochat verheiratet, stand als Gastgeberin im besten Restaurant der Schweiz und starb 2002 mit erst 36 Jahren, nachdem sie in eine Lawine geraten war. «Warum gerade sie?», fragte sich das Land.

Abebe Bikila startete 1960 barfuss und gewann – später verunglückte er und blieb querschnittgelähmt

Abebe Bikila, der Leibgardist des äthiopischen Kaisers, Haile Selassie, bestieg erstmals in seinem Leben ein Flugzeug, als er 1960 in letzter Minute als Ersatzmann an die Olympischen Spiele nach Rom flog. Er hatte nur seine zerrissenen alten Laufschuhe im Gepäck, und in Rom waren die Wühltische der Schuhmarken bereits leergeräumt. Also startete er barfuss zum Marathon und gewann. Vier Jahre später triumphierte er in Tokio erneut, elf Tage nach einer Blinddarmoperation, diesmal in Schuhen. Der Naturläufer verunglückte 1969 mit seinem Auto und blieb querschnittgelähmt. Er starb 1973 mit nur 41 Jahren.

Emil Zatopek (1922–2000) gewann 1952 in London nach der Goldmedaille über 5000 und 10 000 Meter auch im Marathon, den er erstmals überhaupt lief. Nach dem Prager Frühling wurde er als Mitunterzeichner des Manifests der 2000 Worte in ein Arbeitslager verbannt, später rehabilitiert. Von Zatopek stammt die Erkenntnis, dass Afrikanerinnen und Afrikaner «laufen, wie die Vögel fliegen».

Es zogen die dopingverseuchten Jahrzehnte vorüber, als auch ein DDR-Läufer wie Waldemar Cierpinski zweimal Olympia-Gold gewann (1976, 1980) oder der Italiener Gelindo Bordin 1988, ehe Zatopeks Beobachtung verifiziert wurde: Die Afrikaner aus den Hochländern haben den Geburtsvorteil, dass sie, ganz unromantisch, bessere Sauerstoffwerte produzieren. So wie der bald 40-jährige Kenyaner Eliud Kipchoge, der den Marathon dominierte. Bis Kiptum kam und ihn zu entzaubern drohte.

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