Er zählte zu den Trümpfen des Zürcher Schauspielhauses. Mit seinem Tanzensemble wurde der amerikanische Choreograf weltweit berühmt. «Tambourines» ist nun seine letzte Zürcher Produktion.
Der Choreograf ist immer schon da. Trajal Harrell liebt es, das Publikum beim Einlass zu beobachten. Er steht, schaut und schwatzt ein bisschen. Seine Zürcher Fans wissen das, und der eine oder die andere grüsst ihn, durchbricht die Fiktion. Indes: Wo fängt die Aufführung an, wo endet sie? Etwa wenn wir in der Schiffbau-Box alle unsere Handys wieder anmachen, um bei Wikipedia nachzulesen, worum es im Roman «The Scarlet Letter» («Der scharlachrote Buchstabe») von Nathaniel Hawthorne geht.
«Tambourines» sei keine Re-Kreation des Romans von 1850, sagt der amerikanische Choreograf und Hausregisseur am Schauspielhaus zu Beginn seines neuen Stücks, eher eine Reaktion darauf. Als müsste er all jene warnen, die so etwas wie ein zeitgenössisches Handlungsballett erwarteten. Aber das tut nach seinen Überschreibungen berühmter literarischer Stoffe wie Federico García Lorcas «Bernarda Albas Haus», Tennessee Williams’ «Die Katze auf dem heissen Blechdach» oder Shakespeares «Romeo und Julia» ohnehin niemand mehr.
Slut-Pride
Trajal Harrell erzählt nicht Geschichten, er findet Geschichten und stellt sich vor, wie sie sich zu einem anderen Zeitpunkt, in einem anderen Kontext hätten entwickeln können. So lässt er Bernarda Alba und ihre Töchter im Hause Dior der 1940er Jahre einen schaurigen Totentanz tanzen. In «Maggie The Cat», inspiriert von Williams’ Drama über eine verlogene Südstaatenfamilie, tragen die Bediensteten Haushaltsgegenstände über die Bühne und hinterlassen braune Fussabdrücke – als Footprint afroamerikanischer Geschichte.
In «Tambourines» flackern nun einzelne Figuren aus dem «Scharlachroten Buchstaben» auf. Nathaniel Hawthornes Roman führt ins puritanische Amerika des 17. Jahrhunderts und erzählt von Hester Prynne, die vom Pfarrer ein Kind hat. Sie weigert sich, den Namen des Kindsvaters preiszugeben, und wird mit einem scharlachroten «A» gezeichnet. Das Zeichen ihrer Schande trägt sie indes mit Würde, lebt mit ihrer Tochter am Rande der Gemeinschaft und legt das «A» nie ab, sondern verziert es mit schöner Stickerei. Das lässt sich als frühe Umdeutung einer Beschimpfung in einen Kampfbegriff lesen, wie das in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Brandmarkungen und Ausgrenzungen immer wieder geschieht. Slut-Shaming wird zu Slut-Pride.
Es sind diese Bewegungen von Deutung und Umdeutung, Ein- und Ausgrenzung, Verschiebungen und Überlagerungen von Sehnsucht, Glauben, Moral, Hypokrisie, die in «Tambourines» eingegangen sind. Was wäre geschehen, wenn Hester Prynne ihr Kind in einer Gemeinschaft geboren hätte, von der sie unterstützt worden wäre, fragt Trajal Harrell. Und er hat ein Quintett in drei Sätzen geschaffen, mit Allegro, Moderato und Andante unter den Titeln «Unzucht», «Erziehung» und «Feier».
Im ersten Satz, «Unzucht», gehen er und seine langjährigen Mitstreitenden New Kyd, Perle Palombe, Songhay Toldon und Ondrej Vidlar im Kreis und schieben etwas Unsichtbares vor sich her, als müssten sie sich das Begehren vom Körper halten. In «Erziehung» gibt Alicia Aumüller den Takt vor, lässt beten und lesen – und wird schliesslich von den Lernenden zu einem Reigen gebeten. Die «Feier» bringt die Gesellschaft auf den Catwalk der Jahrhunderte. Gefeiert aber werden insbesondere die Kleider. Berge davon liegen auf Klavierstühlen bereit, werden an- und übergezogen und über den imaginären Laufsteg zur Schau gestellt. Nur Frances Chiaverini zieht weiterhin ihre einsamen Runden im langen puritanischen Kleid.
Der Gang über den Laufsteg ist die wichtigste Form von Trajal Harrells Kunst, die eigentliche Signatur seiner Arbeit. Und Kleider sind das wichtigste Requisit. Sie werden in seinen Shows gefühlt tausendmal schneller gewechselt, als wir sie je per Klick bestellen können. Und sie werden meistens von Anfang an bei den Proben getragen.
Nun werden all die Kostüme zusammen mit ihrem Besitzer ein neues Heim finden müssen. Die neue Schauspielhaus-Leitung wird Trajal Harrell mit seinem Schauspielhaus Zurich Dance Ensemble nicht übernehmen. Damit lässt Zürich einmal mehr einen weltberühmten Künstler ziehen.
Trajal Harrell und sein Ensemble sind international äusserst begehrt und ständig auf Tournee. Diesen Herbst präsentierte das Pariser Festival d’Automne neun seiner Arbeiten, darunter auch «Tambourines». Das Schauspielhaus darf sogar an den Swiss Dance Days 2024 auftreten. Die Plattform für zeitgenössischen Schweizer Tanz, die sich eigentlich der freien Szene verschrieben hat, zeigt am 2. März Trajal Harrells grosses Werk «Monkey off My Back or the Cat’s Meow».
Gegen die Vereinzelung
Die Nachfrage verwundert nicht, steht der Künstler doch mit seinem Catwalk der flirrenden Genderidentitäten derzeit eben hoch im Kurs. In Zürich hat er indes eine Fangemeinde herangebildet, die weit über die LGBTQ-Szene hinausreicht.
Tatsächlich muss man Genderdiskussionen und postkoloniale Theorie nicht mögen, um diesen Tanz zu lieben. Trajal Harrell ist weit davon entfernt, sein Publikum in irgendeiner Art erziehen zu wollen. Seine bunte Truppe predigt nicht Diversität, sie lebt sie. Den Nerv unserer Zeit trifft sein Tanz auf einer anderen Ebene. In einer Gesellschaft lauter vereinzelter Menschen, die alle nach Einzigartigkeit streben, in einer Gesellschaft, in der jeder und jede für sich reklamieren kann, von irgendwoher und irgendwem diskriminiert zu werden, lebt dieser Tanz Gemeinsinn vor. Das ist das wirklich Subversive am Tanz des Trajal Harrell. Er setzt Gemeinsinn da, wo Worte und Rede Gemeinsinn zersetzen. Und das an einem Schauspielhaus.