Samstag, Oktober 12

In Jerusalem leben Juden, Araber und Christen, Siedler und Palästinenser, Säkulare und Religiöse auf engstem Raum zusammen, meist eher nebeneinander als miteinander, doch etwas verbindet sie alle: die Tramlinie 1. Ein Stadtporträt in sechs Stationen.

Die Tramlinie 1, auch rote Linie genannt, fährt im Sechsminutentakt quer durch die Stadt. Vom jüdischen Westjerusalem ins arabische Ostjerusalem und zurück. 23 Stationen auf einer Strecke von 14 Kilometern. Sie führt durch elegante Wohngebiete und Einkaufsstrassen, durch ultraorthodoxe Viertel, entlang der Altstadt, vorbei an einem ehemaligen palästinensischen Flüchtlingslager und durch jüdische Siedlungen, die Ostjerusalem umgeben. In 50 Minuten sieht man all die Konflikte an sich vorbeiziehen, die den Nahen Osten umtreiben.

Mit den Vierteln ändert sich auch die Mischung der Passagiere in den modernen Tramwagen mit den schusssicheren Panoramafenstern: Säkulare ältere Jüdinnen sitzen neben streng religiösen ultraorthodoxen Müttern und ihren Kinderscharen. Katholische Nonnen neben einer Gruppe amerikanischer Touristen. Junge palästinensische Pärchen neben Soldatinnen und Soldaten. Die Durchsagen werden auf Hebräisch, Arabisch und Englisch gemacht.

Das Tram vereint alle Jerusalemer, sie fahren ein Stück zusammen, bis jeder wieder in seine eigene Welt abtaucht. Sie lernen sich nicht wirklich kennen, aber zumindest als Mitreisende zu akzeptieren.

Die Linie 1 ist bis heute die einzige Tramverbindung in der Stadt. Ihre Verlängerung und weitere Linien sind geplant und teilweise im Bau. Aber solche Infrastrukturprojekte brauchen viel Zeit in einer politisch umstrittenen Stadt wie Jerusalem.

Rund 170 000 Personen benutzen das Tram am Tag, das entspricht jedem sechsten Bewohner der Stadt. In guten Zeiten sind die Wagen übervoll, in politisch heiklen Momenten gibt es weniger Passagiere, und man beäugt sich misstrauisch. So ist die Atmosphäre im Tram auch seit dem grausamen Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober und dem Beginn des Gaza-Kriegs angespannt. Selbst in Kriegszeiten wollen oder können viele aber nicht auf die Fahrt verzichten.

Wir sind mit dem Tram von der ersten bis zur letzten Station gefahren. Zwischendurch haben wir haltgemacht, um mit Menschen zu sprechen, die entlang der Strecke leben und arbeiten.

So heterogen und polarisiert ihr Staat ist, der Herzlberg verbindet die Israeli. Hier oben liegen Männer und Frauen unterschiedlichster Herkunft und ideologischer Überzeugungen begraben. Der revisionistische Zionist Zeev Jabotinsky, ein von der Rechten verehrter Nationalist. Aber auch Itzhak Rabin, ein linker Ministerpräsident und Nobelpreisträger, der sich um Frieden mit den Palästinensern bemühte und von einem jüdischen Extremisten ermordet wurde.

Sie beide haben ihr Leben dem jüdischen Staat gewidmet. Wie auch Theodor Herzl, der Begründer des politischen Zionismus. Der österreichisch-ungarische Schriftsteller war einer der Ersten, die von einem jüdischen Staat in Palästina träumten. Er verstarb 1904, Jahrzehnte bevor seine Vision Wirklichkeit wurde. Nach der Gründung Israels wurde Herzls Leichnam von Wien nach Jerusalem gebracht und auf dem fortan nach ihm benannten Hügel begraben.

Der Herzlberg ist einer der meistbesuchten Orte Jerusalems, jedes israelische Schulkind kommt mit seiner Klasse hierher, jede Studentin mit ihren Kommilitonen und jeder Rekrut mit seiner Einheit. Über eine Million Menschen gedenken hier jedes Jahr ihrer Helden. In diesen Wochen ist auch der Mount Herzl jedoch ein Ort des Schmerzes und der Trauer.

Dem 42-jährigen Oberfeldwebel Hayon setzt es schwer zu, dass er in den letzten Wochen so viele junge Männer und Frauen beerdigen musste. Und noch mehr, dass er die Leichen der Opfer des grausamen Angriffs der Hamas teilweise nur dank DNA-Proben identifizieren konnte. Er ist aber auch stolz darauf, dass sie es geschafft haben, den gefallenen Soldaten trotz allem einen würdigen Abschied zu bereiten. Stolz darauf, dass so viele Freiwillige mithelfen, Särge zu zimmern. Und stolz darauf, dass die gefallenen Kämpfer hier oben ihre Ruhe finden, am schönsten Ort in Jerusalem.

Jerusalem hat heute eine Million Einwohner. Ein Drittel von ihnen sind Palästinenser, ein Drittel ultraorthodoxe Juden, ein weiteres Drittel säkulare oder moderatere religiöse Juden. Die Haltestelle City Hall, Rathaus, liegt im belebten Stadtzentrum. Die Bevölkerung ist hier sehr durchmischt, im Tram sitzen muslimische Frauen neben säkularen und ultraorthodoxen Jüdinnen.

Der politische Status Jerusalems ist umstritten. Ein Teilungsplan der Uno von 1947 versuchte den Konflikt zwischen arabischen und jüdischen Bewohnern des britischen Mandatsgebietes Palästina zu lösen. Er sah die Schaffung je eines Staates für Juden und für Palästinenser vor, wobei Jerusalem als separate Einheit unter internationale Kontrolle gestellt werden sollte.

Am Tag nach der israelischen Unabhängigkeitserklärung am 14. Mai 1948 griffen Ägypten, Jordanien, Libanon, der Irak, Saudiarabien und Syrien den neu gegründeten jüdischen Staat an. Im Unabhängigkeitskrieg eroberte Israel grosse Teile des britischen Mandatsgebiets, verlor aber die Altstadt und den Osten Jerusalems. Bis 1967 blieb die Stadt in ein israelisches Westjerusalem und ein von Jordanien kontrolliertes Ostjerusalem geteilt.

1967 wurde Israel erneut von seinen arabischen Nachbarn angegriffen und eroberte im Sechstagekrieg die Altstadt und den Osten Jerusalems zurück. Seither gibt es nur noch einen israelischen Bürgermeister für die ganze Stadt.

Das wichtigste Anliegen des amtierenden Bürgermeisters ist der Wohnungsbau. Wie in vielen Grossstädten der Welt fehlt es auch in Jerusalem an bezahlbarem Wohnraum. Moshe Lion sieht es aber auch als seine Aufgabe, das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Religionsgruppen zu erleichtern. «Die Stadtverwaltung muss neutral sein. Sie muss Sicherheit und Sauberkeit für alle Bürger garantieren, nicht nur für die jüdische Bevölkerung in Westjerusalem.» An den Kommunalwahlen, die Ende Februar stattfinden sollen, dürften die meisten Palästinenser jedoch nicht teilnehmen – als Zeichen der Ablehnung der israelischen Kontrolle über Ostjerusalem.

1980 hatte Israel mit einem Jerusalem-Gesetz die beiden Stadtteile offiziell zusammengefasst und zu seiner untrennbaren Hauptstadt erklärt. Der Uno-Sicherheitsrat hat das Gesetz für nichtig erklärt. Das Osloer Friedensabkommen von 1993 zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation ging nicht auf die heikle Jerusalem-Frage ein. Sie bleibt bis heute Hauptstreitpunkt des Nahostkonflikts.

Nicht nur für Christen wie Aghoyan, auch für Juden und Muslime ist die Altstadt von Jerusalem ein heiliger Ort. Ihre Könige und Propheten sollen hier das Wort Gottes vernommen und Wunder vollbracht haben.

An der Stelle, wo im 4. Jahrhundert n. Chr. die Grabeskirche gebaut wurde, soll Jesus Christus gekreuzigt und beerdigt worden und später auferstanden sein. Nur 400 Meter entfernt liegt die heiligste Stätte der Juden, die Klagemauer. An diesem Ort hatte König Salomo nach jüdischer Überlieferung um 1000 v. Chr. den Ersten Tempel errichtet, auf dessen Ruinen später der Zweite Tempel gebaut wurde. Von diesem ist nur eine Mauer erhalten. Nach jüdischem Glauben manifestiert sich dort die göttliche Anwesenheit. Mit dem im 7. Jahrhundert n. Chr. errichteten Felsendom steht direkt hinter der Klagemauer auf dem Tempelberg auch eines der wichtigsten muslimischen Heiligtümer. Der Prophet Mohammed soll von hier aus seine Himmelsreise angetreten haben.

Israel kontrolliert die Altstadt seit 1967. Die Aufsicht über die heiligen Stätten der Muslime wurde aber einer islamischen Stiftung übertragen. Die Grabeskirche wird von sechs christlichen Konfessionen gemeinsam verwaltet.

Aghoyan repräsentiert die Armenisch-Apostolische Kirche. Gemeinsam mit dem römisch-katholischen Priester, dem griechisch-orthodoxen, dem syrisch-orthodoxen, dem äthiopisch-orthodoxen und dem Kopten entscheidet er über Gottesdienste, Prozessionen und Gebetszeiten. «Natürlich gibt es manchmal Streit, wie in jeder Familie, aber insgesamt arbeiten wir gut zusammen.»

Er selbst ist als 15-Jähriger aus Syrien nach Jerusalem gekommen. «Meine Eltern waren Christen und hatten sechs Söhne. Sie entschieden, mich, ihren Jüngsten, Gott zu opfern. Seither ist die Kirche meine Familie und Jerusalem mein Zuhause.»

Vom Damaskustor aus fährt die Strassenbahn ein paar Stationen auf der Demarkationslinie, welche die Stadt vor 1967 in einen israelischen und einen jordanischen Teil getrennt hatte. Seit ganz Jerusalem von Israel kontrolliert wird, ist die Grenze nicht mehr sichtbar, und doch blickt man links und rechts der Tramlinie in völlig unterschiedliche Welten.

Der Bau einer Tramlinie quer durch Jerusalem war von Beginn weg ein politisch heikles und umstrittenes Projekt. Die Stadtbahn sollte Jerusalem beim Zusammenwachsen helfen. Aus Sicht der israelischen Planer war das arabische Ostjerusalem untrennbarer Teil der Stadt.

Die Palästinenser lehnten den Bau gemeinsamer Infrastruktur jedoch ab, weil damit die Grenzen verschwammen und die Chancen kleiner wurden, dass Ostjerusalem je Hauptstadt eines palästinensischen Staates werden würde. Als besonderen Affront empfanden die Palästinenser, dass das Tram auch umstrittene Siedlungen in Ostjerusalem mit Westjerusalem verband.

Die arabischen Bewohner Ostjerusalems boykottierten das Tram in den ersten Jahren nach der Inbetriebnahme 2011. Junge Palästinenser bewarfen die Wagen mit Steinen, verwüsteten Haltestellen und zündeten Billettautomaten an. Entlang der roten Linie wurden in den folgenden Jahren auch einige Attentate verübt. Ein palästinensischer Extremist stach an einer Haltestelle mit einem Messer auf eine junge Soldatin ein, ein anderer fuhr mit dem Auto in eine wartende Menschenmenge und tötete dabei ein dreimonatiges Baby.

Bis heute kommt es an der Grenze zwischen Ost- und Westjerusalem gelegentlich zu Terrorangriffen. Zuletzt hat im Oktober direkt gegenüber der Station Shivtei Israel ein arabischer Messerstecher einen Sicherheitsmann der Stadtbahn attackiert.

Auch wenn er nie auf der anderen Seite war, sieht Shmuel Tefilinski Unruhestifter auf beiden Seiten: «Nicht nur junge Araber, auch einige ultraorthodoxe Jugendliche machen gerne Krawall. Sie bewerfen sich gegenseitig mit Steinen oder zünden Reifen an. Das sind Provokateure, die tun dem Frieden nicht gut.»

Der 57-Jährige zöge gerne in ein anderes Viertel, doch er kann es sich nicht leisten. Er hat zwei erwachsene Kinder, die noch zu Hause wohnen. Und er arbeitet wie viele ultraorthodoxe Männer nicht. Er studiert die heiligen Schriften und schreibt Bücher. Zudem kümmert er sich um seine pflegebedürftigen Eltern. Dafür bekommt er vom Staat eine Entschädigung.

In den letzten Jahren hat die Zahl der Angriffe auf die Stadtbahn abgenommen, und diese ist für hiesige Verhältnisse ein relativ erfolgreiches Projekt geworden. Auch Palästinenser fahren heute Tram, weil es bequem ist und der Widerstand wenig gebracht hat.

Nach dem Ammunition Hill, wo sich bis 1967 ein jordanischer Militärstützpunkt befand, fährt die Linie 1 hinein in das von den Palästinensern beanspruchte Ostjerusalem und durch das Viertel Shuafat. Es zählt drei Tramstationen und 35 000 Einwohner.

Die 21 Jahre alte Rama Bazbaz ist eine von ihnen. Ihr Vater hat ein Geschäft im Quartier, wo sie Wasserfilter und neuerdings auch Kaffee verkaufen. Nebenbei macht die gelernte Konditorin auch Patisserie für Geburtstagspartys, Hochzeiten und andere Feste. Ihr grosser Traum ist es, einmal eine eigene Konditorei zu haben. Aber das ist nicht einfach.

Shuafat grenzt an ein gleichnamiges «Flüchtlingslager», dessen Bewohner im ersten israelisch-arabischen Krieg 1948 vertrieben und später von Jordanien hier angesiedelt wurden. Das Shuafat Camp hat sich aber längst in ein gewöhnliches palästinensisches Viertel verwandelt.

Die nichtjüdischen Bewohner des 1967 annektierten Ostjerusalem wurden nicht automatisch israelische Staatsangehörige. Sie konnten sich einbürgern lassen, die meisten Palästinenser haben das aber nie getan, weil es aus ihrer Sicht einer Aufgabe ihres Anspruchs auf Ostjerusalem gleichkäme.

Wie die Ultraorthodoxen in ihren Vierteln sind auch die Palästinenser in Shuafat unter sich. Die Muslimin Bazbaz hat keine jüdischen Freundinnen. «An der Bethlehem-Universität, wo ich studiert habe, gab es keine jüdischen Studentinnen. Ich kann auch kein Hebräisch, und Jüdinnen in meinem Alter sprechen kein Arabisch. Wie sollten wir uns so anfreunden?»

Nach 1967 hat Israel rund um das annektierte Ostjerusalem fünf Siedlungen gebaut. Mit diesen Ringsiedlungen wurden die arabischen Gebiete in Ostjerusalem und im Westjordanland voneinander getrennt und die Bevölkerung von Ostjerusalem jüdischer gemacht. Von den 600 000 Bewohnern Ostjerusalems sind mittlerweile 40 Prozent Juden.

Anfangs lebten in der Siedlung vor allem junge Familien aus der unteren Mittelschicht, die im Stadtzentrum keine bezahlbaren Wohnungen mehr fanden. In den letzten Jahren sind aber auch viele ultraorthodoxe Familien zugezogen, von denen viele von Sozialhilfe leben und sehr kinderreich sind. Pisgat Zeev ist deshalb heute eines der jüngsten Viertel Jerusalems.

Azilov stört sich daran, dass ihr Viertel immer religiöser wird. «Am Schabbat steht hier die Welt still. Und wenn ich mich schön mache und Freunde besuche, werfen mir die Ultraorthodoxen auf der Strasse verächtliche Blicke zu.»

«Ich bin stolz darauf, in Jerusalem geboren zu sein. Ich habe in Tel Aviv studiert, die Stadt ist ganz anders. Viel homogener und abgehobener. Ich sehe den Leuten sofort an, wenn sie aus Jerusalem sind. Wir sind sehr herzlich und auch ein bisschen verrückt, aber auf eine gute Art.»

Text: Andrea Spalinger
Bilder, Video: Dominic Nahr
Visuelles Storytelling: Adina Renner

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