Dienstag, Dezember 3

Eine 38-jährige Kolumbianerin, die behauptet, von drei Bekannten aus einem Fenster gestossen worden zu sein, muss die Schweiz für 5 Jahre verlassen; allerdings nicht wegen des Hauptvorwurfs in der Anklage.

Das Drama geschah bereits vor fünfeinhalb Jahren: Am 1. Juni 2019 feierten vier Menschen eine ausgelassene Party in einer Wohnung im Zürcher Langstrassenquartier. Es wurden reichlich Alkohol, Kokain und Cannabis konsumiert. Kurz vor Mitternacht stürzte eine der Feiernden aus einem Fenster 9,5 Meter in die Tiefe und blieb lebensgefährlich verletzt in einer Garageneinfahrt liegen. 80 Minuten nach dem Sturz wurde bei ihr noch ein Alkoholwert von 1,8 Promille festgestellt.

Nun sitzt die 38-jährige kolumbianische Transfrau als Beschuldigte vor dem Bezirksgericht Zürich. Der Grund: Sie gab an, von den drei anderen Partygästen aus dem Fenster gestossen worden zu sein. Eine Staatsanwältin eröffnete eine Untersuchung mit dem Verdacht auf versuchte vorsätzliche Tötung. Die drei Beteiligten wurden verhaftet und sassen 76 Tage in Untersuchungshaft. Dann stellten sich die Vorwürfe der verletzten Frau als haltlos heraus.

Im Januar 2021 wurden die drei Beteiligten – ein heute 38-jähriger Brasilianer, eine 53-jährige Transfrau aus Italien und die Wohnungsinhaberin, eine 45-jährige Brasilianerin – nur noch wegen Unterlassung der Nothilfe zu bedingten Geldstrafen von je 100 Tagessätzen à 30 Franken verurteilt. Diese Schuldsprüche sind inzwischen rechtskräftig.

Die Staatsanwältin stellte eine Untersuchung wegen falscher Anschuldigung gegen die Kolumbianerin ein. Das Obergericht hob diese Einstellungsverfügung aber auf und schickte die Staatsanwältin in den Ausstand. Es wurde ein neuer, nicht voreingenommener Staatsanwalt mit der Strafuntersuchung gegen die Kolumbianerin betraut.

Dieser erhob Anklage wegen mehrfacher qualifizierter Freiheitsberaubung, falscher Anschuldigung und unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung. Die Transfrau hatte nämlich als Prostituierte gearbeitet und dies nicht gemeldet, während sie mit Asylfürsorge unterstützt worden war. Der Staatsanwalt beantragt eine bedingte Freiheitsstrafe von 24 Monaten, eine bedingte Geldstrafe von 150 Tagessätzen à 100 Franken und 5 Jahre Landesverweis.

Transfrau fürchtet sich vor Rückschaffung nach Kolumbien

Die beschuldigte Kolumbianerin macht vor Gericht keine Aussagen mehr zur Sache, bestreitet aber grundsätzlich die Vorwürfe. Auf die Frage, ob sie aufgrund des Fenstersturzes noch gesundheitliche Probleme habe, antwortet sie – von einer Spanisch-Dolmetscherin übersetzt: «Nicht physischer Art, eher spiritueller Art.» Ihr Bein sei wetterfühlig, und manchmal schmerze sie der Rücken. Sie arbeitet heute 30 Prozent in einem Restaurant und daneben in einem Escort-Service.

Der Landesverweis wäre für sie ein «Rückschritt», wird übersetzt. Genau wegen transfeindlicher Einstellungen in Kolumbien sei sie ausgewandert. Dort betrage die Lebenserwartung von Transfrauen lediglich 35 Jahre. Wöchentlich würden zwei oder drei Transfrauen ermordet, behauptet sie.

Der Staatsanwalt erklärt in seinem Plädoyer, die Beschuldigte habe nicht nur sich selber, sondern drei weitere Menschen ins Unglück gestürzt. Sie habe absichtlich drei Personen eines Tötungsversuchs bezichtigt. Nur wegen ihrer Aussage seien diese in Untersuchungshaft gekommen, deshalb sei der Straftatbestand der Freiheitsberaubung erfüllt. Die Aussagen der drei Geschädigten stimmten erstaunlich überein.

Er sei überzeugt davon, dass die Beschuldigte mehrfach gelogen habe, auch über ihre Tätigkeit als Prostituierte. Er zitiert Aussagen der anderen Partyteilnehmer: Die Stimmung an jenem Abend sei plötzlich gekippt. Die Beschuldigte, die sich damals mitten in der Transformation von einem Mann zu einer Frau befunden habe, habe gesagt, sie habe keine Lust mehr zu leben. Alle würden sich über sie lustig machen, und sie sei gesellschaftlich nicht akzeptiert.

Dann habe sie sich auf die Fensterbank gesetzt. Alle anderen hätten sie festhalten wollen, sie habe ihnen aber gesagt, sie sollten den Raum verlassen. Dann habe sie sich aus dem Fenster gestürzt.

Sie habe gleich zwei Katalogtaten erfüllt und müsse deshalb obligatorisch ausgeschafft werden. Kolumbien habe seit 2015 sehr fortschrittliche LGBTQ+-Gesetze. Die Frau sei in der Schweiz schlecht integriert, habe hier keine Verwandten und könne kaum Deutsch.

Die Anwältinnen und Anwälte der drei Geschädigten verlangen je rund 30 000 Franken Genugtuung. Das Verhalten der Beschuldigten sei verwerflich und uneinsichtig. Sie habe es bis heute nicht geschafft, ihre Anschuldigungen mit den bösartigen Unterstellungen zurückzunehmen, argumentiert einer der Anwälte.

Der Verteidiger verlangt Freisprüche von allen Delikten. Die Geschädigten hätten widersprüchlich ausgesagt. Die Aussage der Beschuldigten sei gar nicht der Grund für die Untersuchungshaft gewesen. Die Beweislage präsentiere sich noch verwirrender und unklarer als vor vier Jahren. Und beim Vorwurf des unrechtmässigen Bezugs von Leistungen handle es sich höchstens um einen leichten Fall und damit nicht um eine Katalogtat für einen Landesverweis.

Mögliche Wahrnehmungsstörung der Beschuldigten

Das Bezirksgericht Zürich spricht die Beschuldigte am Mittwochabend von den Vorwürfen der mehrfachen falschen Anschuldigung und der mehrfachen Freiheitsberaubung nach dem Grundsatz «in dubio pro reo» frei. Beim unrechtmässigen Bezug von Leistungen gibt es allerdings einen Schuldspruch. Dies sei kein leichter Fall und deshalb eine «Katalogtat». Für diese sei der Landesverweis obligatorisch.

Die Aussagen der Beschuldigten zum Fenstersturz seien «widersprüchlich, vage und diffus» gewesen. Zeugen hätten ausgesagt, durch den Alkohol- und Drogenkonsum sei sie «durch» gewesen. Es sei deshalb nicht auszuschliessen, dass die Transfrau vor dem Sprung eine verzerrte Wahrnehmung und einen Realitätsverlust erlitten habe.

Für den Straftatbestand der falschen Anschuldigung brauche es einen direkten Vorsatz. Es blieben allerdings Zweifel, ob die Frau zu dem Zeitpunkt, als sie am Boden gelegen habe, wirklich gewusst habe, was geschehen sei. Nach dem Grundsatz «im Zweifel für die Angeklagte» müsse sie deshalb freigesprochen werden.

Für den unrechtmässigen Bezug der Leistungen einer Sozialversicherung gibt es eine bedingte Geldstrafe von 120 Tagessätzen à 100 Franken. Aufgrund der Aktenlage und der Angaben der Beschuldigten sei der Sachverhalt erstellt. Weil die Dauer des Delinquierens 44 Monate betragen habe, sei es kein leichter Fall mehr. Der Deliktsbetrag wird von der Gerichtsvorsitzenden auf 18 300 Franken beziffert.

Der Landesverweis wird auf 5 Jahre ausgesprochen. Ein Härtefall liege nicht vor. Die Beschuldigte sei erst mit 27 Jahren in die Schweiz gekommen, verfüge hier über keinerlei familiäre Bindungen. Das Gericht anerkenne zwar, dass Transmenschen in Kolumbien einer gewissen Diskriminierung ausgesetzt seien. Eine systematische oder persönliche konkrete Verfolgung sei aber nicht ersichtlich.

Urteil DG240061 vom 20. 11. 2024, noch nicht rechtskräftig.

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