An deutschen Schulen hat sich das Klima seit dem 7. Oktober vergangenen Jahres stark aufgeheizt. Antisemitische Vorfälle sind massiv gestiegen. Lehrer würden Konflikte vermeiden, vermuten Kritiker. In Hamburg gibt es sogar eine Anleitung dafür. In Frankreich ist die Lage noch schlimmer.
Deutschland und Frankreich haben enorme Probleme mit dem Antisemitismus, auch und ganz besonders an den Schulen. Das belegen Zahlen der Bildungsministerien. In beiden Ländern ist nach dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober vergangenen Jahres die Zahl der antisemitischen Vorfälle an Schulen auf grob das Dreifache gestiegen. Am ersten Jahrestag dieses Anschlags standen beide vor der Frage, wie mit dem Gedenken in der Schule umzugehen sei.
In Hamburg wurde Lehrern in einem Schreiben des Landesinstituts für Lehrerbildung geraten, am Jahrestag nicht der Opfer zu gedenken. Zuerst hatte die «Bild»-Zeitung berichtet. In dem Hamburger Schreiben heisst es: «Verzichtet auf grosse Gesten wie Schweigeminuten, Aufforderungen zur Trauer oder Empathie. Verzichtet auch auf das gemeinsame Schauen von Reportagen.» Lieber solle man aus Papier «gemeinsam 1000 Kraniche der Hoffnung falten». Beim Verfasser, dem Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung, war am Mittwoch trotz mehrfachen Versuchen niemand zu erreichen. Auch der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung Felix Klein versuchte es nach eigenen Angaben vergeblich.
Die Zahl der muslimischen Schüler steigt seit Jahren. Viele haben familiäre Verbindungen in den Nahen Osten. Die Schüler seien von den Vorgängen in Israel, in Gaza oder in Libanon direkt oder indirekt betroffen und emotional involviert, heisst es zur Erklärung in dem Hamburger Schreiben. «Es ist daher wichtig, dass wir in der Schule für diese Betroffenheit Raum geben.» Dabei solle es aber nicht um Sachinformationen gehen, um richtig oder falsch. Stattdessen sollten Lehrkräfte Raum für Emotionen bieten.
Haltung zu zeigen, ist lebensgefährlich
«Das ist eine Bankrotterklärung, was das Institut in Hamburg da geliefert hat», sagt der Psychologe und Islamismus-Experte Ahmad Mansour im Gespräch mit der NZZ. Es zeige den Effekt einer fatalen Mischung – einerseits Angst vor aggressiven Reaktionen muslimischer Schüler, andererseits Angst, als Rassist abgestempelt zu werden. «Ich kann hier von einer Zeitenwende sprechen», sagt Mansour, der häufig auf Einladung Schulen besucht. «Lehrer haben bis 2017 die Themen benannt, aber seit 2017/2018 ist eine riesige Verunsicherung und Sprachlosigkeit entstanden.» Es sei Zeit, Haltung zu zeigen und das Bekenntnis «Nie wieder» mit Leben zu erfüllen.
Haltung zeigen, das hatte auch Frankreichs neue Bildungsministerin Anne Genetet vor. Sie wolle zum Jahrestag des Massakers eine «Zeit des Gedenkens und der Reflexion» an französischen Schulen organisieren, sagte sie am vergangenen Freitag in einem Radiointerview. Diese antisemitischen Handlungen seien für sie als Ministerin «völlig inakzeptabel». Konkret müsse man darüber nachdenken, was es bedeute, das Konzept der Laizität zu verteidigen.
Kurz nach dem Interview ruderte ihr Ministerium allerdings zurück. Ein Sprecher erklärte, dass Genetet die Ereignisse verwechselt habe. Tatsächlich sei kein Gedenken zum 7. Oktober geplant. Stattdessen werde es am 14. Oktober eine Schweigeminute an allen Schulen in Frankreich für die von Islamisten ermordeten Lehrer Samuel Paty und Dominique Bernard geben. Paty war 2020 getötet und enthauptet worden, nachdem er im Unterricht das Recht auf Meinungsfreiheit behandelt und Mohammed-Karikaturen gezeigt hatte. Bernard starb 2023 durch den Messerstich eines Schülers.
Haben Lehrer Angst vor aggressiven Schülern?
Es ist aber unklar, ob Genetet wirklich die Ereignisse verwechselt oder ob sie sich dem Druck aus der Lehrerschaft gebeugt hat. An französischen Schulen über den Terror vom 7. Oktober und den Gaza-Krieg zu sprechen, könnte besonders in sozialen Brennpunkten brenzlig werden, sagen Lehrer in Frankreich warnend. Für Elie Korchia, den Vorsitzenden des jüdischen Konsistoriums von Frankreich, spielt hier auch der Einfluss von La France insoumise eine Rolle. Die Partei des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon ist beliebt unter Lehrern und Schülern und für ihre ablehnende Haltung gegenüber Israel bekannt.
In Berlin gab es ein vergleichbares Schreiben wie in Hamburg nach Auskunft der Bildungsverwaltung nicht. Laut einem Sprecher gibt es immer wieder Handreichungen an die Lehrer, wonach die Haltung unmissverständlich sei: Jede Form von Befürwortung oder Billigung der Angriffe auf Israel und jede Meinungsäusserung, die als Unterstützung von Terrororganisationen wie Hamas oder Hizbullah verstanden werden könne, stelle eine Gefährdung des Schulfriedens dar und solle untersagt werden. Es gebe allerdings nicht viele Fälle, wo das zum Tragen komme.
Das ist laut Ahmad Mansour wenig verwunderlich. «Die Lehrer vermeiden das Thema, weil sie keine Lust auf Stress und Angst vor den Reaktionen der Schüler haben und sich der Sache nicht gewachsen fühlen.» Das sei in ganz Deutschland so und auch abhängig von der Zahl der Muslime in der jeweiligen Klasse.
Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung Felix Klein betont, es solle keine Denk- und Sprechverbote geben; auch muslimische Schüler müssten ihre Gefühle frei äussern dürfen. Klein lobt die Handreichungen der Berliner Schulverwaltung, stuft die Lage an den Schulen im Übrigen aber ähnlich ein wie Mansour.
Verschärft werde sie auch durch die Inhalte der von den Jugendlichen konsumierten Nachrichten und Social Media auf den entsprechenden Kanälen. Klein fordert schon lange ein Pflichtfach Medienkompetenz an Schulen, damit Schüler falsche Darstellungen erkennen können. Ein solches Fach könnten die Kultusminister verbindlich verordnen. Es sei eine wichtige Komponente in der politischen Bildung.