Donnerstag, Dezember 26

Weshalb unerwünschte Emotionen auch ihre guten Seiten haben – und was passiert, wenn wir sie ignorieren.

Wollen wir nicht alle mit Dingen abschliessen, an denen wir nichts ändern können? Uns von unrealistischen Zielen verabschieden und neue Türen aufstossen? Wäre es nicht wunderbar, wenn wir dabei Hindernisse rechtzeitig erkennen – und uns auch gegen Widerstände für das einsetzen würden, was uns wirklich wichtig ist?

Zum Glück haben wir alle ein paar treue Verbündete, die uns dabei helfen. Sie heissen Trauer, Angst und Wut.

Echt? Tränen, zornesrote Köpfe, Angstschweiss – das will doch keiner. Es stimmt ja: Manche Emotionen können sich schrecklich anfühlen. Aber sie motivieren gerade deswegen. Denn sie haben dringende Botschaften. Angst: Überdenke deine Ziele. Trauer: Verabschiede dich von Unerreichbarem, und geh neue Wege. Wut: Setz dich ein für das, was dir wichtig ist.

Früher oder später erlebt jeder emotionale Krisen

«Wir sollten unerwünschte Emotionen willkommen heissen»: Das sagt der Psychologe Matthias Berking. Bewusst spricht er nicht von negativen Emotionen. Denn er sieht viele positive Seiten in ihnen.

Der Psychologieprofessor an der Universität Erlangen-Nürnberg forscht zum Training emotionaler Kompetenzen. Mit seiner Arbeit hilft er psychisch Erkrankten, aber auch Gesunden, ihre Emotionen und deren Botschaften besser zu verstehen. Damit sie gesund werden oder gesund bleiben, damit sie Krisen trotzen und neue Wege gehen können.

So viel steht fest: Krisen werden in jedem Leben früher oder später kommen, manche Pläne werden sich ändern müssen. Neue Wege gehen – das ist manchmal leicht und ein anderes Mal leichter gesagt als getan.

Elaine, die eigentlich anders heisst, ist in vielen Dingen flexibel. Zum Beispiel war ihren Eltern finanzielle Sicherheit wichtig. Also wurde die Frau aus dem Kanton Bern nicht Künstlerin, sondern Übersetzerin. Das sei die vernünftigere Wahl gewesen, sagt sie heute. Eines aber war für sie geradezu selbstverständlich: Sie würde Kinder haben. Den Mann dazu hatte sie. Der richtige Zeitpunkt schien gekommen. Und dann passierte: nichts.

Die Angst kam. Was, wenn sie keine Kinder würde haben können? Sie ging zum Spezialisten, spritzte sich Hormone, begann eine Kinderwunschbehandlung. Nach einem Jahr konnte sie nicht mehr. Die Angst hatte sich in ihrem Bauch eingenistet, so beschreibt es die 43-Jährige heute. Das Gefühl schmerzte und drückte, lag in ihr, schwer und zerstörerisch wie ein Haufen Steine. Der körperliche und psychische Stress störte ihren Schlaf.

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Sie wusste, sie konnte sich und ihrer Partnerschaft keine weiteren Hormonspritzen, Klinikbesuche und Ultraschalle mehr zumuten. Also Schluss damit. Am Ende der Behandlung fühlte sie zunächst Erleichterung. Doch dann kam die Trauer, ungebeten und aufdringlich. Und sie blieb.

«Im ersten Jahr war ich in einem Überlebensmodus», erinnert sie sich. Im zweiten Jahr begann sie, als Elaine zu schreiben. Sie startete einen Blog: Elaine ohne Kind – Über den Abschied vom Kinderwunsch und das Leben danach. Zu ihren Themen gehören: Angst, Trauer, Wut und Neid – und der Umgang mit ihnen. Elaine war in der Krise.

Schwierige Emotionen weisen den Weg

«Schwere Lebenskrisen entstehen durch die Zerstörung fundamentaler Grundannahmen», sagt die Psychologin Judith Mangelsdorf. Die Professorin für positive Psychologie an der Deutschen Hochschule für Gesundheit und Sport forscht über posttraumatisches Wachstum – darüber, ob und wie Leid Sinn stiften und letztlich sogar zu Lebensglück beitragen kann.

Sie sagt: «Wenn zum Beispiel die Gewissheit zerstört wird, Mutter zu werden, dann hat das eine Auswirkung wie ein schlimmes Erdbeben.» Der Lebensentwurf liegt in Trümmern. Die betroffene Person muss sich ihre Vorstellung von einem gelungenen Leben neu aufbauen. Anders als zuvor. Nur wie?

Unterdrückte Emotionen machen krank

Was hilft, sind laut Judith Mangelsdorf ausgerechnet die schwierigen Emotionen: «Sie weisen uns den Weg.» Und der Psychologe Matthias Berking ergänzt: «Wenn wir sie beachten, helfen sie uns. Wenn wir sie ignorieren, werden sie grösser, und wir werden krank.»

Wer es nicht schafft, auf die eigenen Emotionen zu hören und sie zu regulieren, hat laut dem Wissenschafter ein erhöhtes Risiko, psychische Erkrankungen zu entwickeln. Das können zum Beispiel Essstörungen, Depressionen oder Angststörungen sein. Wer psychisch erkrankt ist und keinen konstruktiven Umgang mit seinen Emotionen findet, bleibt eher krank.

Elaine sagt: «Ich wollte durch die Trauer und die anderen Emotionen hindurch, wollte auf der anderen Seite herauskommen und mein Leben gestalten.»

Der erste Schritt dorthin ist laut Matthias Berking: die verschiedenen Emotionen erkennen und benennen. Wo im Körper sitzt die Angst, die Trauer, die Wut? Welches Gefühl verursacht sie dort? «Dadurch sorge ich für eine gewisse Ruhe, selbst wenn ich mich aufgewühlt fühle», sagt er und ergänzt: «Wenn ich meine Emotion beschreibe, ist zumindest mein beschreibender Teil ruhig. Dadurch senkt sich meine Atemfrequenz, die unerwünschte Emotion verliert an Kraft, und ich werde insgesamt entspannter.»

Den Emotionen zuhören und erkennen, wie sie uns helfen wollen, das nennt Judith Mangelsdorf den Wechsel auf die Bedürfnisebene. Nicht immer schaffen es Menschen in einer Krise, die Sprache ihrer Emotionen zu verstehen. «Wer das Gefühl hat, das Erlebte gar nicht verarbeiten zu können, und in seinem Alltag kaum noch zurechtkommt, sollte sich therapeutische Hilfe suchen», rät sie.

Elaine bat die Praxisassistentin ihres Kinderwunschzentrums bei ihrem letzten Behandlungszyklus um einen Kontakt zu einer Psychologin. «Ich habe vermutet, dass ich extrem traurig sein würde, wenn es nicht klappt.» Sie konnte und wollte ihr Gefühlschaos nicht allein aushalten. Elaine ordnete es mithilfe der Fachfrau und erkannte, was die unerwünschten Emotionen von ihr forderten. Nämlich nichts Geringeres, als ihr Leben völlig neu zu gestalten.

Sie distanzierte sich von Freundinnen, die Kinder hatten. Mit ihrem Mann zügelte sie in ein Quartier, in dem nur wenige Familien mit kleinen Kindern leben. Sie reduzierte den Kontakt zu ihren Patenkindern. «Drei Jahre lang war die Trauer vorherrschend in meinem Leben», sagt Elaine heute, acht Jahre nach dem Abschluss der Kinderwunschbehandlung.

Das ist nicht ungewöhnlich. Judith Mangelsdorf: «Etwa 85 Prozent der Menschen trauern in solchen Krisen sehr intensiv im ersten Jahr. Danach wird die Emotion kontinuierlich schwächer, aber das ist individuell.»

Auf Selbstfürsorge achten

Bei der Verarbeitung hilft es nicht nur, den Emotionen zuzuhören. Judith Mangelsdorf empfiehlt auch, die intensive Emotionsarbeit immer wieder zu unterbrechen. «Einer der Königswege bei der Bewältigung von Krisen ist, sich auch wieder anderen Menschen zuzuwenden», sagt sie. «Für wen kann ich da sein, wo kann ich helfen?» Wer das beherzige, erfahre: Mein Leben wird nicht nur bestimmt durch meine Trauer, Wut und Angst. Sondern: «Ich kann auch wirksam sein in dieser Welt.»

Um Positives zu spüren, begann Elaine auch, Dankbarkeitslisten auf ihrem Blog zu veröffentlichen. Auf ihrer Sommerglücksliste stehen zum Beispiel der Geruch von Sonnencrème und das Grillieren mit Freunden. Solche Listen gehören zu ihrem «Selbstfürsorge-Werkzeugkoffer», wie sie es nennt. Was noch dazugehört: Bewegung an der frischen Luft, gutes Essen, ein Ritual am Abend: «Vorm Einschlafen sage ich mir drei Dinge, für die ich dankbar bin.»

Dankbarkeitslisten helfen: Das bestätigen Judith Mangelsdorf und Matthias Berking. Wer in der Krise steckt, sollte bewusst für positive Emotionen sorgen und sich in Erinnerung rufen, dass es im Leben beides gleichzeitig geben kann und darf: tiefe Trauer und Glücksmomente.

Das ist für viele Betroffene schwieriger zu begreifen, als man meinen könnte. Kaum fühlte sich Elaine während des Trauerprozesses einmal glücklich, spürte sie Schuldgefühle, wie sie auf ihrem Blog schreibt: «Heisst das nicht, dass ich meine Kinder nicht richtig gewollt habe? Ist das nicht ein Verrat an meinen Wunschkindern, dass es mir jetzt wieder gutgeht?»

Menschen in Lebenskrisen sollten laut Judith Mangelsdorf ihre Genussfähigkeit trainieren. Denn darum geht es beim Spüren positiver Emotionen. Es ist die Fähigkeit, positive Momente überhaupt wahrzunehmen, sie auch proaktiv herzustellen, indem man etwas unternimmt, was Freude bereitet – und sich zu erlauben, diese Erlebnisse bewusst zu geniessen.

So können positive Emotionen nach und nach mehr Raum einnehmen. Aber man braucht Geduld. Mit reiner Willenskraft verschwinden Angst, Wut, Trauer oder Neid nicht. Im Gegenteil. Der Psychologe Matthias Berking sagt: «Wenn ich traurig bin und mein Ziel ist, dass diese Emotion jetzt sofort wegsoll, dann ist das ein unerreichbares Ziel. Und unerreichbare Ziele ziehen noch mehr schwierige Emotionen nach sich.»

Sich selbst innerlich beistehen

Die richtige Balance zu finden, gelingt nicht immer. Wenn Trauer, Angst oder Wut partout nicht weichen wollen, empfiehlt Matthias Berking die «konstruktive Hoffnungslosigkeit». Das bedeutet: das Gefühl aushalten, es erst einmal nicht verändern wollen und darauf vertrauen, dass es kleiner werden wird, dass der Moment kommen wird, in dem ich es regulieren kann.

Was beim Ausharren wichtig ist: «Man muss Nachsicht mit sich haben, soll sich nicht selbst zurechtweisen, sondern sich innerlich beistehen – so wie eine gute Mutter und ein guter Vater das tun würden», sagt Matthias Berking.

Elaine hat gelernt, sich selbst geduldig und mit Wohlwollen zu begegnen. Die Emotionsarbeit der vergangenen Jahre habe sie gestärkt – auch für den Umgang mit neuen Krisen. Zum Beispiel als sie vor einigen Monaten doch noch schwanger wurde. Sie verlor das Kind nach wenigen Wochen. Die Trauer kam, aber sie überschwemmte sie nicht mehr.

Elaine hat ihr Leben neu geordnet

Sie hat vieles von dem getan, was Psychologen wie Judith Mangelsdorf und Matthias Berking empfehlen, um eine Lebenskrise zu bewältigen. Doch die Tipps aus der Forschung sind kein Rezept mit Geling-Garantie. Judith Mangelsdorf betont: «Es gibt hilfreiche Strategien, aber nicht immer kann man einen guten Umgang mit der eigenen Krise finden.»

Elaine hat es geschafft. Ihr Leben geht weiter. Anders, als sie wollte, und letztlich doch, wie sie es einmal vorhatte: Sie hat ihren Bürojob reduziert und arbeitet daneben als Künstlerin und Illustratorin.

Als ihr Patenkind vor einiger Zeit bei ihr übernachtete, stellte es seine Kinderzahnbürste ins Zahnglas von Elaine und ihrem Mann. Elaine sah die drei Zahnbürsten und schrieb auf ihrem Blog darüber: «So wäre das gewesen, wenn es geklappt hätte mit den Kindern. Dann wären da jetzt nicht nur zwei Zahnbürsten. Es rührte mich.» Und weiter: «Ja, wir haben keine Kinder. Ja, wir hätten gerne Kinder gehabt. Aber es ist eben, wie es ist. Ich kann mittlerweile damit leben, auch wenn ich das fast nicht für möglich gehalten hätte. Und ich lebe sogar gut damit.»

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