Woche für Woche endet für mehrere Athletinnen und Athleten die Skisaison im Spital. Nun laufen etliche Versuche, sie besser zu schützen. Ausgerechnet jetzt droht der Hersteller der Airbags mit dem Rückzug.
Wenn der Helikopter zur Piste hoch fliegt, wissen die Zuschauer, dass es wieder einmal jemanden bös erwischt hat. Skirennen sind ein Kantengang, allein in diesem Winter mussten mehr als 30 Athletinnen und Athleten von der Rennstrecke ins Spital gebracht werden. In Kitzbühel sagte Markus Waldner, der Rennchef des Ski-Weltverbandes FIS: «Wir sind am Limit. Es muss sich etwas ändern.»
Da sind sich wohl alle einig. Doch was sind überhaupt die Ursachen für die Häufung schwerer Verletzungen? Sofia Goggia sagte vor einer Woche in Garmisch-Partenkirchen: «Jede Fabrik versucht, einen Ski herzustellen, der noch härter und schneller zu fahren ist. Wir haben keine Ski, wir haben Waffen.» Dem widerspricht allerdings Rainer Salzgeber, Rennchef der Firma Head. «Die Ski sind in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren nicht aggressiver geworden. Wir setzen heute noch Konstruktionen ein, die unsere Athleten schon vor mehr als zehn Jahren gefahren sind.»
Für die Konstruktion der Ski gibt es detaillierte Regelungen, letztmals angepasst wurden diese für die Speed-Disziplinen 2012. Was aber nicht reglementiert wurde, ist die Präparierung der Kanten, und dort werden derzeit in der Abfahrt Grenzen ausgelotet. Für die Aggressivität ist entscheidend, wie diese geschliffen werden.
Selbst mit Kurven sind sie nicht zu bremsen
Grundsätzlich gilt, dass Abfahrtsski weniger aggressiv präpariert werden, damit sie in Gleitpassagen nicht greifen, sondern schön flach gestellt werden können und quasi auf der Piste schwimmen. Je stärker man den Winkel zwischen Unterlage und Kante reduziert, desto eher beissen sich die Ski in den Schnee. Das ist im Slalom gewünscht, wo auf eisiger Unterlage möglichst schnell der Schwung eingeleitet wird.
Heute soll es Abfahrtsski geben, deren Kanten maschinell so präpariert werden, wie man es früher nur im Slalom kannte. Das erklärt zumindest einen Teil der Verschneider, die passieren, wenn Fahrer in tiefer Hocke geradeaus rasen. Der richtige Schliff der Kanten gehört zum oft zitierten Set-up und ist eines der Erfolgsgeheimnisse im Skirennsport.
Dass es demnächst zu einschneidenden Veränderungen bei den Ski und deren Präparierung kommt, ist unwahrscheinlich. Was hingegen diskutiert wird, sind Möglichkeiten, die Athletinnen und Athleten etwas zu bremsen. Man versucht das seit Einführung der Carving-Ski, indem man auch in Abfahrten immer mehr und engere Kurven setzt.
Doch die Fahrer haben ihre Geräte mittlerweile so gut im Griff, dass sie auch in engen Kurven noch beschleunigen. Wie gut sie das können, unterstreicht die Tatsache, dass Marco Odermatt in diesem Jahr am Lauberhorn den Streckenrekord um fast zwei Sekunden verbesserte. Die alte Bestmarke stammte aus dem Jahr 1997, als die Strecke mit weniger Kurven deutlich kürzer war.
Statt noch mehr Kurven zu setzen, könnte man auch weniger windschlüpfige Anzüge einführen. «Die Zuschauer sehen doch gar nicht, ob man auf der Streif im Zielschuss mit 140 oder 120 km/h unterwegs ist», sagte der Norweger Aksel Svindal kürzlich in Kitzbühel. Möchte man weniger windschlüpfige Anzüge, müsste man wohl einen Einheitsstoff einführen.
Solange mit hautengen Anzügen gefahren wird, ist es jedoch gar nicht so einfach, bloss mit dem Stoff eine markante Bremswirkung zu erzielen. Björn Bruhin, Leiter Forschung bei Swiss Ski, sagt, man habe im Windkanal schon verschiedene Tests vorgenommen, doch die Bremswirkung sei bis heute nicht in der Grössenordnung gewesen, die Svindal vorstellt. Die Athleten hätten nur um wenige Prozent verlangsamt werden können. Das brächte also im Zielschuss von Kitzbühel vielleicht ein paar km/h.
Was hingegen einfach einzuführen und auch wirkungsvoll wäre, ist schnittfeste Unterwäsche. Die Kanten der Rennski sind so scharf, dass man sich damit rasieren könnte. Aksel Svindal schnitt der Ski 2007 derart tief ins Gesäss, dass ihm ein künstlicher Darmausgang gelegt werden musste. Aleksander Kilde wurden im vergangenen Jahr in Wengen fünf Muskeln und Nerven im Bein durchtrennt. Mikaela Shiffrin spiesste sich diesen Winter mit einer Torstange auf.
Swiss Ski hat in diesem Winter allen Athletinnen und Athleten einen Satz schnittfeste Unterwäsche ausgegeben, die FIS will ab kommender Saison zumindest für die Hosen zwingend schnittfeste Stoffe vorschreiben, ein Jahr später könnten die Oberteile folgen. Dieser Satz ist vorsichtig formuliert, weil es im Skirennsport öfters Diskrepanzen zwischen Ansage und Umsetzung gibt.
Jüngstes Beispiel dafür ist der Airbag. Dieser wurde ab 2011 von der italienischen Firma Dainese entwickelt, die ein solches Produkt bereits im Töffrennsport zum Einsatz gebracht hatte. Ab 2015 wurde er auch auf Skirennpisten eingesetzt. Es gab aber immer wieder Fahrer, die sich skeptisch äusserten. Trotzdem wurde der Airbag von der FIS auf die laufende Saison hin für Abfahrt und Super-G für verbindlich erklärt.
«Die Sicherheit der Athletinnen und Athleten kommt an erster Stelle und ist nicht verhandelbar», sagte der Generalsekretär Michel Vion. Wirklich? Unter Athletinnen und Athleten begann sich Widerstand zu regen. Sie sagten, der Airbag sei unbequem, und führten Sicherheitsbedenken an. Ausserdem verlangsamt der Schutz gemäss Windkanalmessungen die Fahrer. Kurz vor der Saison wurde das Reglement aufgeweicht: Wer wollte, konnte eine Ausnahmebewilligung beantragen – und bekam diese auch.
Laut neusten Zahlen sind in den Speed-Disziplinen der Männer 88 Prozent mit dem Airbag unterwegs, bei den Frauen sind es nur 75 Prozent. Die Firma Dainese ist darüber wenig erbaut. Als das Projekt lanciert wurde, schätzte Vittorio Cafaggi vom italienischen Unternehmen die Entwicklungskosten auf mehrere Millionen Euro. Jetzt ist der Airbag seit fast zehn Jahren im Einsatz und immer noch ein Verlustgeschäft.
Laut Marco Pastore, der zuerst als Testfahrer bei der Entwicklung dabei war und heute den Einsatz des Airbags im Skirennsport koordiniert, sind im Welt- und Europacup knapp 200 Fahrerinnen und Fahrer mit dem Produkt unterwegs. Damit lasse sich nicht genügend Umsatz generieren, um die Kosten zu decken. Und im Hobbysport ist der Airbag nicht gefragt.
Ein Airbag, der auch den Kopf schützt
Dainese hat nach Einführung der Ausnahmeregel schriftlich bei der FIS protestiert, bisher aber keine Antwort erhalten. Deshalb ist laut Pastore die Frage offen, ob man im Frühling weitermacht. Ein Rückzug von Dainese wäre ein herber Schlag für den Skirennsport, nicht nur, weil dann das einzige Tool verschwände, das bei Stürzen die lebenswichtigen Organe der Athleten schützt.
Es würden auch wichtige Entwicklungen gestoppt, mit denen die Sicherheit weiter verbessert werden könnte. Es wird daran gearbeitet, den Airbag so zu verbessern, dass er auch den Nacken und den Kopf schützt. Wie wichtig das wäre, zeigen die Beispiele von Cyprien Sarrazin und Tereza Nova, die beide nach schweren Stürzen in diesem Winter mit einer Gehirnblutung im Spital landeten. Nova liegt noch immer im künstlichen Koma.
Auch für ein anderes Projekt wäre der Rückzug von Dainese ein herber Rückschlag: Die Skiindustrie arbeitet an einer intelligenten Bindung. Die Ausrüster, die im Rennsport tätig sind, haben sich in der Branchenorganisation SRS zusammengeschlossen, während der Rennen in Kitzbühel trafen sich die vier massgeblichen Bindungshersteller zu einem Austausch. Laut Rudi Huber, Generaldirektor der SRS, soll nun möglichst rasch ein Prototyp entwickelt werden.
Verletzungen am Knie und an den Unterschenkeln sind mit Abstand das häufigste Übel im Skirennsport. Rennbindungen aber sind Schraubstöcke, sie lösen sich oft erst, wenn das Knie schon kaputt ist. Ein System, das die Bindung auch ohne Sturz öffnet, existiert bereits: eine kleine Sprengladung, die den Fersenautomaten nach hinten schiebt. Nun geht es darum, einen Algorithmus zu entwickeln, der feststellt, wann der Fahrer so sehr die Kontrolle verliert, dass eine Auslösung nötig ist. Genau das hat Dainese für den Airbag bereits gemacht, doch Knieverletzungen gehen andere Bewegungen voraus als einem Crash.
Trotzdem könnten das Know-how und die Technik von Dainese genutzt werden, denn die Firma hat einen Bewegungssensor entwickelt, der in den Rückenpanzer integriert ist. Huber von der SRS geht davon aus, dass eine selbst auslösende Bindung bis 2028 bereit sei. Doch diese Schätzung stimmt nur, wenn Dainese mitmacht.
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