Sonntag, November 24

Bizarre Berge, weisse Strände und unberührte Landschaften: Die Inselwelt vor Norwegen fasziniert viele Touristen. Doch wie prägen die harschen Bedingungen das Leben der Einheimischen?

Wer die alten Friedhöfe der Fischerdörfer auf den Lofoten besucht und die verwitterten Grabinschriften liest, entdeckt eine traurige Wahrheit: Hier ruhen fast nur Frauen und Kinder. Die Männer hat das Meer verschlungen. Die Mehrzahl von ihnen arbeitete im Winter als Fischer. Sie ruderten hinaus auf die See, wenn ab Januar der torsk in die Fjorde der Inselgruppe zog. Der arktische Dorsch, der nach der Geschlechtsreife Kabeljau oder Skrei genannt wird, sorgt dann für volle Netze.

Das Meer vor der Küste Norwegens ist fischreich, und dank dem Golfstrom bleibt es über dem nördlichen Wendekreis ganzjährig zwischen 4 und 6 Grad. Im arktischen Winter ist das warm. Im Sommer bedeutet Baden in Norwegen: rein und schnell wieder raus, obschon das Meer mit seinen weissen Korallenstränden friedlich aussieht. Wie so vieles, wenn die Sonne stets über dem Horizont bleibt.

In den kurzen nordischen Sommern bestellten die Bewohnerinnen und Bewohner der alten Fischerdörfer auf den Lofoten ihre Felder. Dank der Mitternachtssonne gediehen die Pflanzen schneller als in Mitteleuropa. Zweieinhalb Monate Vegetationszeit reichten für Ernten, die bis tief in die Winterzeit reichten. Im Sommer halfen die Frauen ihren Männern beim Heuen, pflückten Preisel- und Moltebeeren zwischen Birken, versorgten die Tiere. Sommerglück – unter einer nie untergehenden Mitternachtssonne. Doch dann, im Winter, wenn die Männer wieder hinausruderten, kam der eine und andere nicht zurück.

Das Wetter ist so weit nördlich im Winter launisch, das Meer tückisch. Innerhalb von Minuten ist nichts mehr, wie es eben noch war. Damals lag dann alles bei den Witwen. Sie kümmerten sich um den Hof, die Kinder und die Tiere, bestellten die Felder allein oder heirateten den nächsten Fischer.

Das Meer öffnet den Horizont der Bewohner

Was macht das mit den Menschen, die hier oben auf 68 Grad nördlicher Breite seit Jahrhunderten der Natur trotzen? Kari Anne Fredriksen, die das Restaurant Hamn i Senja auf der winzigen Insel Langbaren bei Skaland seit Jahrzehnten führt, kennt sowohl den Süden, aus dem sie stammt, als auch den Norden. Das Wetter im Süden ist ihr «längst zu langweilig geworden». Im Norden, begleitet von Mitternachtssonne und Nordlichtern, erlebt sie die Leute offener und freundlicher. «Aber irgendwie auch härter: Sie fluchen gern, viel und laut», sagt Kari Anne.

Hart also wird man hier oben. Und oft hört man: Bewohner der Arktis leben im Moment. Wer weiss, was kommt. Fischer sind heutzutage nur die wenigsten. Es braucht keine Ruderboote mehr voller Männer, die den Gezeiten trotzen, um ihre Familien zu ernähren.

Doch vom Meer leben die Bewohner hier oben bis heute. Auch, weil es Touristen anlockt. Rolf Solvoll, pensionierter Lehrer, begleitet manche von ihnen auf einem würdevoll gealterten hölzernen Fischerboot. Er umrundet mit den Menschen aus dem Süden die Insel Bleiksöya vor der Insel Andöy, einen einsamen 158 Meter hohen Berg im Meer, einen der berühmtesten Vogelfelsen Norwegens. Auf ihm ziehen, belauert von stets gefrässigen Seeadlern, Papageitaucher ihre Jungen auf. Jedes Paar legt nur ein einziges Ei pro Saison.

160 000 Vögel kommen ab April hier zusammen, um ihre Bruthöhlen zu graben. Von weitem wirkt es, als umschwirrten Wespen die Bergspitze. «Ein Seeadler snackt am Tag zwei Papageitaucher», sagt Rolf, der wie alle Menschen im Norden mit dem Vornamen angesprochen werden will. Um das Boot herum tauchen die Vögel nach Fischen oder schaukeln behäbig wie winzige Frachter auf den Wellen.

Es fällt Rolf schwer, hier zu sein, denn an diesem Morgen im Juni startete Punkt neun die Fliegenfischersaison. Und das bei gnädigem Wetter. Aber Job ist Job.

Was macht das Meer mit den Menschen in Vesteralen und auf den benachbarten Lofoten? Rolf denkt kurz nach. Und erzählt dann, wie das Meer begrenzend wirkt, aber auch öffnend. «Das Meer ist bis heute einer unserer Zugänge zur Welt.» Es führte schon vor der Erschliessung durch das Postschiff und durch Flughäfen zu den Fischen, und es brachte Besucher, die entlang der Küste unterwegs waren und Neuigkeiten mitbrachten. Es war die Strasse, auf der sich die Leute bewegten, weil es keine andere gab. «Die Nähe zum Meer macht die Menschen hier oben offen, es kamen auf ihm ja ständig Leute vorbei.» Im Landesinnern, so Rolf, seien die Norweger reservierter.

Das Wetter macht die Menschen spontan

Die Gefahr des sich schnell ändernden Wetters am Atlantik machte die Menschen zu guten Beobachtern. Sie lernten, auf Wetterzeichen zu achten und sich auf schnelle Wechsel einzustellen. Rolf sagt: «Wir planen für die nächsten Stunden.» Wenn das Wetter sich freundlich zeige, lasse man alles stehen und liegen. «Wir sind hier auf den Inseln spontan, weil wir nicht im Voraus wissen können, was kommt.»

Das Wetter bestimmt im hohen Norden alles. Kjetil Paulsen, der unsere kleine Reisegruppe von Journalisten durch Vesteralen führt, sagt: «Alle reden hier ständig über das Wetter. Wir reden so viel darüber, dass selbst die Engländer uns manchmal sagen, jetzt sei es genug.»

Schlechtes Wetter hält die Menschen im Norden kaum auf. Bei Bootstouren stehen wasserdichte, dick gefütterte Overalls in allen Grössen bereit. Solange das Meer ruhig ist, fahren die Boote hinaus. Traditionell beginnt auf Vesteralen am 1. Mai die Badesaison. Kjetil erklärt die Regeln: «Jeder muss rein, das ist Tradition.» Doch die Menschen auf den Lofoten sind keine Badefreaks. Das Meer dient den Nutzern der Saunahütten an den weissen Stränden vor allem als Abkühlbecken. Was die Menschen hier oben im Norden eint, ist ihre Begeisterung für den Skilanglauf im Winter und das Wandern im Sommer. Wer schlechtes Wetter und Nebel vom Meer als Normalzustand kennt, verspürt ein unbändiges Bedürfnis, die schönen Stunden im Freien zu geniessen.

Das zerstörerische Meer inspirierte Dichter

Oder wie es Stein-Tore Johansen ausdrückt: «Heute fahre ich bei strahlendem Sonnenschein mit dir auf den Mahlstrom hinaus. Um diesen schönen Tag zu erleben, muss ich auch all die schlechten Tage akzeptieren.» Stein-Tore stammt aus einer Fischerfamilie und fährt Touristen ab dem Hafen von Reine nach Anstad, einst eines der grössten Fischerdörfer der Lofoten, das keine Strassenverbindung zum Rest der Insel hatte.

Heute ist Anstad die norwegische Variante einer Geisterstadt. Die Leute nahmen ihre zerlegbaren Holzhäuser einfach mit, als sie weiterzogen. Der steinerne Anlandeplatz und die Steinsäulen im Meer, die den Fischern als Orientierung dienten, sind noch da. Der Pfad über die Berge, den die Kinder jeden Morgen zur Schule nahmen, ist längst überwuchert. Schlug das Wetter um, mussten die Schulkinder oft tagelang im Nachbardorf ausharren, bis sie heimkonnten.

Um mit dem Boot nach Anstad zu gelangen, musste man den Mahlstrom meistern, dessen zerstörerische Kraft bei Sturm Autoren wie Jules Verne, Herman Melville und Edgar Allan Poe inspirierte. Heute ist der Mahlstrom ruhig. Nur die ungewöhnlich spitzen Wellen, die die Tiefe des Meeres produziert, lassen erahnen, dass hier etwas Gefährliches lauert.

Wird es Stein-Tore hier draussen auf dem Meer nicht manchmal zu einsam? Doch, zeigt er mit einem Nicken an, ab und zu zieht es ihn deshalb in die Stadt. Nach ein paar Tagen wird ihm das lärmende Durcheinander aber zu viel. «In Oslo steckt man ständig im Verkehr fest. Wozu sollte man sich das antun? Für mich fühlt es sich hier oben an, als wohnte ich in der Mitte von allem.»

Hinter Narvik steckt Erz im Granit

Narvik, auf dem Festland gelegen, zeigt eine andere Seite Norwegens. Auch hier dominiert das Meer. Die Stadt existiert dank ihrem eisfreien Hafen, den ihr der Golfstrom schenkt. Nur war dieser hier nicht nur für die Fischer wichtig. Er erschloss das Landesinnere, wo einer der weiteren Schätze des Nordens liegt: Eisenerz. Die Eisenbahn dorthin musste man den Bergen abtrotzen.

Schon seit Jahrhunderten wussten die indigenen Samen, die hier mit ihren Rentierherden durch das Land zogen, von den Erzvorkommen im Granit der Berge hinter Kiruna auf der schwedischen Seite. Doch die Gegend war unzugänglich für den kommerziellen Abbau.

Anfang des 20. Jahrhunderts holte man fünftausend Wanderarbeiter, die die Region für einige Jahre in ein arktisches Klondike verwandelten. Die Eisenbahnarbeiter, genannt rallare nach dem Geräusch der Waggons auf den Schienen, bauten, statt Gold zu schürfen, eine Eisenbahnlinie hinauf in die Berge. Die Ofotenbahn erstreckt sich 43 Kilometer bis nach Riksgränsen in Schweden.

Der erste Zug fuhr 1902. Das für den Eisenbahnbau nötige Material kam per Schiff und wurde mit Pferdefuhrwerken auf den Berg gebracht. Im Tal errichtete man eigens die Stadt Rombaksbotn für die Arbeiterfamilien, samt Verwaltung und Lager.

Ein Jahr nach der Fertigstellung war diese Stadt auf Zeit fast spurlos wieder verschwunden. Die Wanderarbeiter waren an anderen Orten im Einsatz oder hatten Arbeit im heutigen Narvik gefunden, das als Stadt erst durch den Eisenbahnbau entstanden war.

Noch heute transportiert die Bahnstrecke jährlich 23 Millionen Tonnen Güter und Touristen, die die wilde Landschaft aus dem «Arctic Train» erleben wollen. Steingrim Sneve hat den Zug unzählige Male genommen.

Bereitwillig erklärt er den Mitfahrenden die Entstehungsgeschichte der nördlichsten Bahnlinie Norwegens, um die im Zweiten Weltkrieg hart gekämpft wurde. Die versenkten deutschen Zerstörer liegen zum Teil bis heute in Ufernähe.

Steingrim liebt es, zu erleben, wie sich die Landschaft vom ruhig daliegenden Ofotfjord hoch ins Gebirge wandelt. Sein von Lachfältchen und einem transparenten Brillengestell umrahmter Blick schweift in die Ferne: «Über uns lagen einst drei Kilometer Eis, das aus Schweden kam. Die Täler verlaufen hier von Osten nach Westen, zum Meer hin. Das Eis schob sich ins Meer und schmolz in den Fjorden ab.» Daher sind die Berge so glatt, rund und freundlich. Es könnte auch anders sein. «Wir haben hier oben ein einziges Tal, das von Norden nach Süden ausgerichtet ist. Das Eis war dort gefangen und taute langsam ab. Die Felsen dort sind rau und wild, da sie nie geschliffen wurden.»

Eine neue Spezies von Wanderern dringt in den Norden

Steingrim hat ein Häuschen an der letzten Bahnstation auf norwegischer Seite, Björnfjell. Von hier ist es nur einen Kilometer bis nach Schweden.

Wie alle Norweger hisst er als Erstes die Flagge, wenn er im Wochenendhäuschen ankommt. Kein Ferienhäuschen ohne Fahnenmast. Die Nachbarn müssen ja wissen, dass sie jederzeit auf einen Kaffee vorbeischauen können. «Die Landschaft ist so sanft. Ich liebe es, hier oben zu wandern. Der Blick kann in die Ferne schweifen. Das kann er hier in der zerklüfteten Landschaft am Meer selten. In der Stadt sieht man nur Mauern.»

Er wandert bei jedem Wetter, studiert die Spuren von Jahrtausenden. Die Steine, die das Gletschereis mit sich schob, haben tiefe Rillen im Granit hinterlassen. Es ist eine raue und doch sanfte Landschaft. «Ich sehe, ob die Pflanzen dieses Jahr früher dran sind, ob ihre Bestäuber schon da sind.» Viele Nordländer haben dieses geschulte Auge. Man versteht die Natur, wenn man sich die Details ansieht. «Ich bin langsam unterwegs, spüre die Natur, das Wetter. Das Wetter formt die Natur – und auch die Menschen, als Teil von ihr.»

Was er aber auch wahrnimmt: Die Spezies des aufmerksamen Wanderers herrscht in den Bergen Norwegens nicht mehr vor. Immer mehr Leute, die hier hochkommen, «wollen einfach ihre Kilometer abspulen», sagt Steingrim. «Viele tragen Kopfhörer. Sie verpassen die Geräusche der Natur, der Vögel, des Wetters.»

Wobei, Menschen, die die Natur nicht lesen konnten, gab es auch vor 120 Jahren schon. Als die Eisenbahner die Bahnlinie planten, rannte, so erzählt er, ein Ingenieur einem Bären, der sich in der Nähe herumtrieb, mit gezücktem Messer hinterher. Er hatte Riesenglück, dass der Bär schneller rennen konnte als er.

Von dieser Episode blieb nur der Name auf dem Stationsschild, Björnfjell. Bjørn für Bär, fjell für Berg. «Es scheint, dass viele Stadtmenschen ihr Verständnis für die Natur verloren haben. Die Bären riechen und hören einen. Sie gehen uns aus dem Weg, lange bevor wir ahnen, dass sie in der Nähe sind.»

Die Samen teilen ihre Erträge mit der Natur

Hier oben, in Steingrims Refugium, trifft man heutzutage mit viel Glück den scheuen Vielfrass. Oder Rentiere, immer wieder Rentiere. Die Männchen streifen halbwild auf der Suche nach einem Weibchen herum, bevor die indigenen Samen die Herden zusammentreiben. Im Winter halten sie die Herden im Hochgebirge, im Sommer an der Küste. So kommen die Rentierherden zweimal im Jahr durch die Gegend rund um Björnfjell. Nur wenige Samen leben heute noch von den Rentierherden. Viele sind sesshaft geworden, versuchen aber, ihre Sprache und Kultur trotzdem zu bewahren.

So wie Ronald Kvernmo, der sein Lavvu, eine Art riesiges Tipi der Samen, für Touristen bereithält. Er selbst wohnt, wie die anderen knapp zwei Dutzend Einwohner in Gratangen, das eine halbe Stunde Fahrt nördlich von Narvik liegt, in einem ganz gewöhnlichen Haus.

Statt Rentiere hält er Husky-Mischlinge. Fischen aber geht er, wann immer er kann. «Wenn wir fischen, folgen wir den Möwen. Wo sie kreischen und im Sturzflug ihre Schnäbel ins Wasser stossen und kleine Fische davontragen, steuern wir hin.» Denn unter den kleinen Fischen, die die Möwen sich holen, gibt es die grossen. «Als Dank an die Möwen lassen wir später am Ufer die Innereien und Fischteile zurück, die wir nicht wollen.»

Samen nehmen nur das aus der Natur, was sie wirklich brauchen. Den Rest geben sie zurück. So, wie sie beim Feuerholzmachen den grössten Baum, der alle anderen beschützt, stehen und die Äste, die sie nicht benötigen, im Wald lassen.

Nicht nur die Möwen bekommen ihren Dank, auch das Meer selbst. «Wir werfen traditionell eine Münze in die See.» Nur – Norwegen ist schon sehr weit darin, das Bargeld zugunsten der Kartenzahlung abzuschaffen. Münzen sind selten geworden. Ronald kam auf die passende Lösung. Er fand sie bei seinen Kindern, die Chips ähnlich wie Pokémon-Karten handelten. «Ein Nacho-Chip war zwei Kartoffelchips wert. Alles hat den Wert, den man ihm zuschreibt. Seitdem werfen wir vor dem Fischen Chips ins Meer.»

Diese Reportage wurde möglich dank der Unterstützung von Edelweiss (www.flyedelweiss.com). Die Fluggesellschaft fliegt neu direkt nach Tromsö und Evenes.

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