Montag, Oktober 7

Das Zürcher Festival bietet ein abwechslungsreiches Programm aus Theater, Tanz und Akrobatik. Im Programmheft, auf der Website und dem Festivalgelände aber wimmelt es von Wokeness-Signalen.

Der Star des Theaterspektakels 2024 ist ein Pottwal; letzte Woche ist er am Utoquai gestrandet. Die Kunde vom täuschend echt wirkenden Meerestier, das an Klimawandel und Meeresverschmutzung erinnern sollte, ging durch ganz Europa. Von einem «Meisterwerk der Kommunikation» war gar in einem euphorischen Artikel der «Süddeutschen Zeitung» über das Zürcher Theaterfestival die Rede.

Der Wal also bescherte dem Event einen Promotionserfolg. In seinem Schatten aber stapfte ein anderes Animal durchs Spektakel – einer jener sprichwörtlichen Elefanten, über die man ihrer Grösse zum Trotz hinwegsieht. Eine ideologische Fracht hat er der Veranstaltung beschert, die schon so selbstverständlich zu sein scheint in Teilen der Kultur- und insbesondere der Theaterszene, dass sie kaum mehr thematisiert wird. Paradoxerweise haben Konzepte wie «Awareness» und «Wokeness», die eigentlich ja für Aufmerksamkeit und Sensibilität stehen, unterdessen einen sedativen Effekt.

All Gender

Das Theaterspektakel auf der Zürcher Landiwiese ist auch ein Rummelplatz, ein Jahrmarkt. Die Scharen, die durch den Eingang strömen, schauen sich nicht alle ein Theaterstück an, viele kommen, um ihren Nachwuchs für ein paar Minuten einem Strassenkünstler zu überantworten oder um für einen Satay-Spiess und ein Bier anzustehen. Bei dem beträchtlichen Publikumsaufkommen kann man froh sein, dass es genügend Toiletten gibt. Neben Herren- und Frauentoiletten sorgen auch WC für «All Gender» dafür, dass die Warteschlangen nicht zu lange werden. Niemand wird sich stören an der ideologisch besetzten Infrastruktur.

Die Wokeness beginnt allerdings bereits beim Eingang, wo eine Tafel den Besuchern «Awareness» anempfiehlt: Es handle sich dabei um Aufmerksamkeit für die eigenen Grenzen und Sicherheitsgefühle ebenso wie die der anderen. Sollten die eigenen Grenzen, der eigene Horizont denn nicht erweitert werden an einem Theaterfestival, mag man sich fragen. Aber darum geht es nicht. Es geht um «voreilige Berührungen, einen starren Blick auf eine Person oder eine unbedachte Aussage», die Menschen verletzen könnten.

Mit Zivilcourage und Dialogfähigkeit scheint es da nicht getan. «Wir stehen ein für Dialog», heisst es, «aber es gibt Grenzen.» Aufgezählt werden Rassismus und Sexismus, Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit. Und erwähnt wird ein spezielles Awareness-Team – eine Art Awareness-Polizei in grünen Westen –, das Meldungen über «grenzüberschreitende oder übergriffige Situationen» entgegennehme. Wem die Hilfe der grünen Westen noch nicht reicht, kann sich überdies in einen Festival-Safer-Space zurückziehen. Es handelt sich indes um ein enttäuschend kleines Zimmer mit ein paar Sitzgelegenheiten.

Inwiefern bestimmen Wokeness und Awareness auch das künstlerische Programm des Zürcher Theaterspektakels? Es gehe hier um «Klimawandel, Post-Neo-Kolonialismus, Feminismus und alles aufeinander bezogen», meldete die «Süddeutsche Zeitung» ganz begeistert. Fast könnte man erschrecken ob der geballten Ladung Polit-Aufklärung. Als hinge künstlerische Qualität von der Gesinnung ab.

Die einfache Sprache

Tatsächlich haben am Theaterspektakel viele Aufführungen politische Implikationen, und gewiss folgt die Programmierung einer eher linken Agenda. Die politische Ausrichtung jedoch ist weniger charakteristisch für das künstlerische Angebot als seine internationale Vielfalt und seine stilistische Diversität. Die eingeladenen Ensembles kommen einerseits von fast allen Kontinenten. Andrerseits ist es aber der bunten Palette von Theater, Tanz, Konzerten, Zirkus und Akrobatik zu verdanken, dass das Festival längst zu einem Volksfest geworden ist, das die Massen anlockt.

In den Texten der Programmzeitschrift versucht man der Breite des Publikums wiederum durch woke Rezepte gerecht zu werden. Das zeigt sich zum einen in forcierten «Triggerwarnungen». Bei jeder Produktion wird vor allen möglichen Effekten gewarnt, denen das Publikum ausgesetzt sein könnte. So liest man zu «Los Días Afuera», einem Stück der Argentinierin Lola Arias über ehemalige Gefängnisinsassinnen: «Das Stück thematisiert Gewalterfahrungen, Depressionen und Substanzabhängigkeit. Die Performer*innen zeigen auf der Bühne starke Emotionen. Es gibt starke Gerüche, laute Musik sowie plötzliche Lichtwechsel.»

Zum andern sollen die Texte im Programmheft das Verständnis der Stücke durch Erklärungen fördern. So liest man wiederum zu «Los Días Afuera», die Regisseurin habe mit «queeren, weiblich gelesenen und trans Personen» gearbeitet.

Fertig mit Kleidersammeln

Manchmal scheint es, als würden sich verschiedene Formen von Awareness gegenseitig im Weg stehen. Auch woke Vorstellungen und Werte sind eben einer gewissen Dynamik ausgesetzt. Das zeigt sich am Beispiel von «Return to Sender», einer Installation der nairobischen Künstlergruppe The Nest Collective. Die Kenyaner haben auf dem Spektakel-Areal einen Pavillon aus Ballen fest verschnürter Altkleider aufgestellt, der deutlich machen soll, dass die gebrauchten Textilien aus Europa in Kenya keine Abnehmer mehr finden.

Dass man in Afrika auf die alten Kleider, die offenbar der eigenen Textilindustrie nur schaden, verzichten will, kann man nachvollziehen. Allerdings galt es hierzulande lange als achtsam und vernünftig, alte Kleider in die Kleidersammlung zu bringen – im Sinne von Solidarität und Nachhaltigkeit.

So bleibt zu hoffen, dass die sogenannte Awareness mit der Zeit wieder an ideologischer Anziehungskraft verlieren wird und man vermehrt lachen wird über die grotesken Ausprägungen übersteigerter Wokeness. Schon jetzt aber wird am Theaterspektakel nicht so heiss gegessen, wie die Wokeness-Küche kocht. Die Höhepunkte der diesjährigen Ausgabe setzten Aufführungen wie «Mothers» von der Polin Marta Górnicka oder «Los Días Afuera» von Lola Arias. Diese trumpfen nicht mit Wokeness auf, vielmehr überzeugen sie durch originelle Theaterformen und einen wachen Blick auf die Realität.

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