Pharmafirmen kritisieren das Bundesamt für Gesundheit (BAG) scharf, weil es immer länger dauert, bis es die Preise für neue Arzneimittel festgesetzt hat. Allerdings gibt es auch wegen der hohen Preise, die Medikamentenhersteller durchzudrücken versuchen, Verzögerungen.
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) muss von der Pharmaindustrie regelmässig Prügel einstecken. Viele Patienten in der Schweiz müssten zu lange auf den Zugang zu Medikamenten warten, kritisiert die Lobbyorganisation Interpharma seit Jahren.
Ins gleiche Horn bliesen im vergangenen November Vertreter des Basler Pharmakonzerns Novartis. Es gehe immer länger, bis sich das BAG dazu durchringe, den Preis für ein neues Medikament festzulegen, hiess es an einem Medienanlass. Zugleich steige die Anzahl unerledigter Anträge. In den ersten zehn Monaten vergangenen Jahres waren es laut Interpharma kumuliert 311. Vor zehn Jahren, 2014, sei der Pendenzenberg mit 62 ausstehenden Gesuchen deutlich kleiner gewesen.
Trödelt die Gesundheitsbehörde, wenn es darum geht, neu zugelassene Medikamente für Patienten in der Schweiz verfügbar zu machen? Wenn dem so wäre, träfe dies vor allem Patienten mit Krebs oder anderen schweren Erkrankungen hart. Je früher die Patienten von neuen, innovativen Therapien profitieren, desto grösser sind die Chancen, dass sie länger überleben oder gar geheilt werden können.
BAG prüft nach Swissmedic
Beim BAG wehrt man sich gegen die Vorwürfe aus der Pharmaindustrie. «Unabhängige nationale und internationale Studien zeigen, dass wir sehr schnell sind», sagt Jörg Indermitte, der als Co-Leiter der Abteilung Arzneimittel Krankenversicherung fungiert.
Mit Blick auf neue Medikamente muss man wissen, dass diese in der Schweiz wie in den meisten Ländern ein zweistufiges Verfahren durchlaufen. Zunächst prüft die für Arzneimittel zuständige Aufsichtsbehörde Swissmedic die Sicherheit und Wirksamkeit. Sie entscheidet, ob ein Medikament in der Schweiz grundsätzlich verschrieben werden darf.
In einem zweiten Schritt bestimmt das BAG, wie viel das neu zugelassene Präparat kosten darf. Es stützt sich in seiner Beurteilung auf die Kriterien Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit.
Auf die Spezialitätenliste drängen viele Präparate
Erst wenn sich das BAG und der Anbieter auf einen Preis geeinigt haben, gelangt das Medikament auf die sogenannte Spezialitätenliste. Die Erwähnung in diesem Verzeichnis, das zurzeit rund 3000 Medikamente umfasst, bietet die Voraussetzung dafür, dass Patienten die Kosten der Verschreibung durch die Grundversicherung erstattet bekommen.
Vorletztes Jahr prangerte Interpharma in einer Medienmitteilung an, dass im Mittel 217 Tage zwischen der Zulassung neuer Medikamente durch Swissmedic und der Aufnahme auf die Spezialitätenliste verstreichen würden. 2015 seien es erst 42 gewesen.
Dass der Zeitaufwand bei der Bestimmung von Medikamentenpreisen gestiegen ist, bestreitet man selbst beim BAG nicht. Dies sei ein internationales Problem und habe seine Ursachen in Forderungen hoher Preise sowie einer steigenden Komplexität, sagt Indermitte. «Alle Länder kämpfen damit. Wir sehen das klar in den internationalen Gremien, in denen wir mitwirken.»
Zugleich betont man beim BAG, über eigene Zahlen zu verfügen, die von jenen der Pharmaindustrie abweichen würden. Laut Indermitte gelingt es der Behörde, in 60 Prozent aller Fälle einen Entscheid auf Aufnahme innerhalb von 60 Tagen nach der Zulassung durch Swissmedic zu fällen. 60 Tage umfasst zugleich die Frist, welche die Krankenpflege-Leistungsverordnung des Bundes vorgibt und deren Nichteinhaltung Interpharma dem BAG immer wieder vorhält.
Bahnbrechende Erkenntnisse in der Genetik
Die meisten Medikamente, die in der Schweiz neu auf den Markt kommen, sind Krebsmittel sowie solche gegen seltene, oft vererbte Krankheiten. Die Krebsforschung hat in den vergangenen rund zwanzig Jahren dank zahlreichen bahnbrechenden Erkenntnisgewinnen im Bereich der Genetik und Molekularbiologie enorm an Breite gewonnen. Gleichzeitig wurde eine grosse Zahl von Technologien entwickelt, die es ermöglichen, Krebsfälle genauer und schneller zu diagnostizieren sowie effizienter zu behandeln.
Diese Aufbruchstimmung hat Universitäten weltweit bewogen, stark in die Krebsforschung zu investieren. Daneben betätigen sich mittlerweile Tausende von Biotechnologieunternehmen im Bereich der Onkologie. Alle versuchen, neue Therapien hervorzubringen, die Patienten noch bessere Behandlungsmöglichkeiten versprechen. Zwar scheitern wegen der hohen Vorgaben an die Sicherheit und die Wirksamkeit die meisten Vorhaben, doch wer es bis zur Zulassung schafft, dem winken hohe Einnahmen.
Die riesige Konkurrenz unter Forschern wirkt damit nicht kostendämpfend. Sie treibt die Preise für neue Medikamente im Gegenteil in die Höhe. Wie stark dies der Fall ist, zeigt sich darin, dass Neuheiten im Bereich der Onkologie vor zehn Jahren in der Schweiz verbreitet 1000 Franken pro Monat kosteten. Inzwischen seien, stellt man beim BAG fest, 8000 bis 10 000 Franken üblich. Für einzelne Therapien hätten Hersteller monatlich auch schon bis zu 25 000 Franken gefordert.
Bei günstigeren Produkten geht es schneller
Was bedeutet all dies für den Zeitbedarf bis zur Aufnahme neuer Medikamente auf die Spezialitätenliste? Laut BAG zeigte eine Auswertung für 2021, dass bei Medikamenten mit einem Maximalpreis von 50 000 Franken pro Jahr der Prozess rasch beendet werden konnte. Länger hätten die Verfahren bei Produkten mit Preisen von 50 000 bis 100 000 Franken gedauert. Ebenfalls zeitaufwendig war nach Angaben der Behörde die Beurteilung von Präparaten zur Behandlung seltener Erkrankungen. Solche kosten häufig über 100 000 Franken pro Jahr.
Therapien gegen seltene Erkrankungen sind oft ein absolutes Novum. Das heisst, dass Patienten erstmals überhaupt auf eine wirksame medikamentöse Behandlung zählen können. Für das BAG bringt dies die Herausforderung mit sich, dass das Präparat mit keinem Konkurrenzprodukt verglichen werden kann – es keinen therapeutischen Quervergleich gibt. Die Behörde kann bei der Preisgestaltung nur darauf abstellen, wie viel das Medikament in anderen Ländern kostet.
Der Auslandpreisvergleich sei bei Arzneimitteln gegen seltene Krankheiten aber meist wenig aussagekräftig, weil nur sogenannte «Schaufensterpreise» bekannt seien, gibt Indermitte zu bedenken. «Über Rabatte ist nichts bekannt.»
Geheimniskrämerei bei Preismodellen
Im Rahmen von Preismodellen handeln viele Länder inzwischen Rabatte für innovative, zugleich aber besonders teure neue Medikamente aus. Beispiele für Preismodelle sind Kombinationstherapien, bei denen die beteiligten Arzneimittel günstiger verrechnet werden, als wenn sie einzeln zum Einsatz gelangen. Die Vereinbarungen basieren auf Vertraulichkeit. So wissen nur die Regierung des jeweiligen Lands und der Hersteller, wie viel ein Medikament mit Preismodell kostet.
Das BAG lässt sich, nachdem es zunächst eine eher kritische Haltung dazu eingenommen hat, zunehmend ebenfalls auf Preismodelle ein. 100 Medikamente auf der Spezialitätenliste kennen eine solche Regelung. Zu den bekanntesten Präparaten, die darunter fallen, zählt die Gentherapie Zolgensma von Novartis. Sie verspricht Kleinkindern mit der seltenen Erbkrankheit spinale Muskelatrophie deutliche Therapiefortschritte. Manche sollen gar in der Lage sein, nach der Einnahme statt schwer behindert mehr oder weniger normal aufzuwachsen. Die Therapie muss zugleich nur einmal, in Form einer Spritze, verabreicht werden.
Laut BAG betrug der Auslandpreis von Zolgensma 2,2 Millionen Franken. Auf eine solche Forderung habe man nie und nimmer eintreten können, unterstreicht die Behörde. Entsprechend aufwendig gestalteten sich die Verhandlungen zwischen dem BAG und Novartis.
Schweizer Markt hat oft nicht Priorität
Bei allen Unterschieden in den anfänglichen Positionen half, dass die Behördenvertreter und die zuständigen Mitarbeiter des Schweizer Pharmakonzerns einander von vielen Gesuchen her gut kannten. Ausländischen Anbietern fehlen hingegen häufig die Kenntnisse und Ressourcen, um sich zeitsparend durch das Schweizer System mit seinen Eigenheiten zu manövrieren. Nicht selten rangiert die Schweiz als kleiner Markt auch nicht besonders hoch auf der Prioritätenliste der Medikamentenhersteller. Die Marktbearbeitung in grösseren Ländern hat Vorrang.
Hinzu kommt ein Versäumnis, das sich viele Pharmafirmen selbst zuzuschreiben haben. Sie lassen unnötig viel Zeit verstreichen, ehe sie bei Swissmedic und beim BAG vorstellig werden. Wie ein neuer Bericht der Eidgenössischen Finanzkontrolle zur Prüfung des Zulassungs- und Vergütungsprozesses bei Arzneimitteln ausführt, werden die Gesuche im Durchschnitt kumuliert rund 300 Tage später als möglich eingereicht. «Das ist schade und müsste nicht sein», sagt Indermitte.
Die enorme Innovationstätigkeit vor allem bei Krebsbehandlungen bringt es mit sich, dass das BAG inzwischen über 200 neue Gesuche pro Jahr zu bearbeiten hat. 2019 waren es zum Vergleich erst 80. Personell sei man dafür mit genügend Ressourcen ausgestattet, findet man bei der Behörde.
Der Personalbestand im Bereich Arzneimittelaufnahmen stieg in den vergangenen fünf Jahren von 780 auf 2000 Stellenprozente. Finanziert wurde der Ausbau durch die wachsende Zahl von Gesuchen, deren Bearbeitung für die Pharmafirmen kostenpflichtig ist.
In Deutschland geht es länger
Und wie gut schlägt sich die Schweiz im internationalen Vergleich, wenn es darum geht, über die Vergütung von neuen Medikamenten möglichst zeitnah zu befinden? «Sie ist erstaunlich schnell», sagt Kerstin Noëlle Vokinger von der Universität Zürich.
Die Professorin für Recht und Medizin hat mit ihrer Doktorandin Camille Glaus umfangreiche Datenbestände für die Jahre 2011 bis 2022 in der Schweiz, Deutschland, Frankreich, den USA und Grossbritannien analysiert. Dabei ergab sich, dass, gemessen am Medianwert, von allen untersuchten Ländern in der Schweiz am wenigsten Zeit zwischen der Zulassung eines Medikaments und dem Entscheid bezüglich der Kostenübernahme verstrich. Während es hierzulande 14 Wochen dauerte, mussten Pharmafirmen in Frankreich fast 40 Wochen und beim Schlusslicht Grossbritannien gar fast 50 Wochen in Kauf nehmen. In Deutschland dauerte die Zeit bis zur Nutzenbewertung 30 Wochen.
Vergütung ab Tag null?
Dieses Ergebnis ist für die Mitarbeiter des BAG aus Bern Liebefeld schmeichelhaft. Dennoch bleibt der Druck auf der Behörde hoch. Laut einem Vorschlag von Interpharma sollen die Kosten für Medikamente mit einem hohen medizinischen Bedarf in der Schweiz künftig nach deutschem Vorbild ab Tag null der Zulassung erstattet werden. Dabei gibt das BAG einen provisorischen anfänglichen Preis vor. Die Behörde soll dann 24 Monate Zeit haben, um final festzulegen, wie viel das neue Präparat kosten darf.
Fällt der definitive Preis tiefer aus, wäre der Hersteller verpflichtet, Einnahmen aus der Differenz zurückzuerstatten. Im Nationalrat hat das Begehren der Pharmalobby bereits Zustimmung gefunden. Beim BAG hofft man, dass sich der Entscheid im Ständerat noch kippen lässt. Die Behörde stellt sich auf den Standpunkt, dass sich Preise schwer nach unten verhandeln lassen. Ein Argument, das einleuchtet, zumal auch in Deutschland wegen stark steigender Medikamentenausgaben die Kritik am Modell «Vergütung ab Tag null» wächst.