Sonntag, November 24

Die Statistiken liefern für 2023 die wenigsten Flugtoten in der Geschichte. Doch es gibt weiterhin sicherheitsrelevante Probleme.

Das neue Jahr war gerade zwei Tage alt, da flimmerten vergangene Woche dramatische Live-Bilder vom Flughafen Tokio-Haneda weltweit über die Bildschirme: Ein fast nagelneuer Grossraumjet des Typs Airbus A350 stand lichterloh in Flammen. Glücklicherweise konnten alle 379 Insassen das Flugzeug von Japan Airlines rechtzeitig verlassen. Am Wochenende folgten dann die nächsten Schockbilder aus den USA: Eine ebenfalls fast werksfrische Boeing 737 Max 9 von Alaska Airlines fliegt über eine Stadt. Hinten links im Rumpf klafft eine grosse, quadratische Öffnung, der Blick fällt auf Lichter und Dunkelheit draussen. Ein rauschender Luftsog strömt durch die Kabine, Verständigung ist kaum möglich, Sauerstoffmasken hängen von der Decke.

In 4800 Metern Höhe war nach dem Start in Portland im amerikanischen Gliedstaat Oregon plötzlich eine deaktivierte, nicht ausreichend gesicherte Tür aus ihrer Verankerung gerissen worden und landete in einem Vorgarten. Eine rasche Notlandung gelang, alle 177 Insassen blieben unversehrt. Allerdings flogen etliche Utensilien wie Handys und Kleidungsstücke durch den Sog ebenfalls aus dem Flugzeug. Zwei solche weltweit beachtete Schreckensszenarien im Luftverkehr innerhalb weniger Tage, kann man da überhaupt noch unbesorgt in ein Flugzeug steigen?

Die Zahlen sprechen eine andere Sprache

Kurioserweise sorgten die aufeinander folgenden Schreckensbilder aus zwei Erdteilen für eine subjektive Wahrnehmung von Unsicherheit in der Verkehrsfliegerei, während sich tatsächlich gleichzeitig das Gegenteil manifestierte. Denn in der Bilderflut des flammenden Infernos von Tokio ging zu Jahresanfang die Meldung zur Flugsicherheitsbilanz 2023 fast völlig unter: Mit über acht Millionen Menschen, die weltweit in ein Flugzeug gestiegen waren, erreichte die Zahl der Fluggäste im abgelaufenen Jahr einen neuen Rekord, der die Vor-Pandemiezeit überstieg.

Gleichzeitig gab es 2023 weltweit nicht einen einzigen tödlichen Unfall mit einem kommerziellen Passagierjet. Eine solche Sicherheitsbilanz wäre noch vor wenigen Jahrzehnten unvorstellbar gewesen.

Die einzigen beiden tödlichen Unfälle in der Passagierluftfahrt mit Flugzeugen über 5,7 Tonnen Startgewicht ereigneten sich 2023 mit Turboprop-Flugzeugen. Der schwerste geschah mit einer ATR-72 in Nepal, wo die Piloten fälschlicherweise beide Triebwerke im Landeanflug in Leerlaufstellung gebracht hatten und dadurch abstürzten, alle 72 Menschen an Bord starben. Den einzigen anderen Crash erlitt ein Flugtaxi im brasilianischen Amazonasgebiet, dort starben alle 14 Insassen.

So schlimm auch 86 Tote sind: In der Gesamtbilanz, gemessen an über vier Milliarden sicher ans Ziel gekommenen Passagieren, ist diese Zahl kaum messbar. Tut man es doch, ergibt sich nach Statistiken weltweiter Luftfahrtorganisationen wie ICAO und IATA und Berechnungen privater Beratungsfirmen ein Wert von 0,09 tödlichen Unfällen pro eine Million Flüge für 2023, im Vorjahr waren es noch 0,10 und im Zehnjahresschnitt 0,20 fatale Crashs je eine Million Abflüge. Rechnerisch wird Fliegen also tatsächlich immer sicherer.

Allerdings ist die Luftfahrt durchaus von sicherheitsrelevanten Problemen geplagt, die beide in den gegenwärtigen Fällen eine Rolle spielten. «Beide Unfälle werden so oder anders menschlichem Versagen zugeschrieben werden – irgendwo in der Kette der Ereignisse hat ein Mensch einen Fehler gemacht», vermutet Conor Nolan von der Flight Safety Foundation gegenüber dem «Wall Street Journal».

Allein an Todesopfern lässt sich Flugsicherheit nicht messen, auch eine Abfolge am Ende glimpflich abgelaufener Zwischenfälle nacheinander zeigt deutlich, dass es Sicherheitsdefizite gibt. Ein solches, vor dem Experten anhaltend warnen, ist die steigende Zahl von sogenannten «runway incursions», also dem unberechtigten Rollen von Flugzeugen auf einer aktiven Piste ohne Genehmigung durch die Fluglotsen. Dafür sind sowohl die gerade an grossen Flughäfen weltweit oft auftretende Überlastung und die dünne Personaldecke bei den Fluglotsen verantwortlich als auch die mangelnde technische Ausstattung mancher Flugzeuge. In den USA war die Zahl solch gefährlicher Vorfälle in letzter Zeit sprunghaft gestiegen.

Das ungenehmigte Einbiegen auf die aktive Landebahn durch ein Flugzeug der Küstenwache war auch der Auslöser des Unfalls in Tokio. Warum der Pilot trotz zuvor von ihm bestätigter Anordnung zum Stopp an einem Haltepunkt plötzlich losrollte, wird derzeit untersucht. Da Unfälle meist erst durch eine Verkettung von ungünstigen Umständen eintreten, kam in diesem Fall hinzu, dass die Maschine der Küstenwache kein bei Verkehrsflugzeugen übliches sogenanntes ADS-B-System an Bord hatte, was automatisch unmissverständliche Standortmeldungen versendet. So wussten weder Fluglotsen noch die Piloten der anfliegenden A350, dass hier jemand im Weg stand, tragischerweise starben beim Aufprall fünf Personen der Küstenwachen-Besatzung.

Flugzeuge werden immer besser gesichert

Doch das Feuer in Tokio lieferte gleichzeitig einen Beweis dafür, wie weit die üblicherweise herrschende Obsession für Sicherheit die Standards in modernen Flugzeugen gebracht hat. Noch nie konnten Experten sogar in Livestreams beobachten, wie ein aus Kohlefaser-Verbundwerkstoff gefertigter Rumpf verbrennt. Das Ergebnis liess alle staunen: sehr langsam. Wo herkömmliche Typen aus Aluminium sich bei Unfällen durch Feuer oft binnen Minuten in ein Inferno und dann einen rauchenden Trümmerhaufen verwandeln, konnte der A350-Pilot als Letzter noch 18 Minuten nach der Kollision eine letzte Inspektion der Kabine vornehmen.

Bis die ganze Maschine in Flammen stand, dauerte es rund vierzig Minuten, auch dank der modernen Kabineneinrichtung, wo für Wandverkleidungen, Sitzbezüge und Teppiche stark feuerhemmende Materialien vorgeschrieben sind. Insofern brachte dieser dramatische Praxistest auch den hoffnungsvollen Aspekt, dass die heutzutage in modernen Verkehrsflugzeugen eingebaute passive Sicherheit Passagieren im Fall der Fälle wesentlich bessere Überlebenschancen bietet.

Die herausgefallene Tür der Boeing 737 Max 9 wirft ein Schlaglicht auf eine weitere ungelöste Problematik: Engpässe bei den Zulieferern der Flugzeughersteller und mangelnde Qualitätskontrollen bei der Endabnahme. Darunter hat vor allem Boeing seit Jahren massiv zu leiden, und es ist kein spezifisches Problem bei der auch sonst leidgeplagten Boeing 737 Max. Erst kurz vor dem gegenwärtigen Fall hatte Boeing Airline-Kunden vor fehlenden Bolzen bei den Seitenrudern am Leitwerk warnen müssen, im vergangenen Sommer musste die Max-Produktion sogar unterbrochen werden, nachdem falsche Bohrungen an neuen Rumpfsektionen aufgetaucht waren.

Die Auslieferung der Boeing 787 stand per Verfügung durch die Luftfahrtbehörde FAA wegen Problemen mit der Produktqualität sogar fast das ganze Jahr 2022 still. Infolge des gegenwärtigen Groundings der Boeing 737 Max 9 wurden vergleichbar blockierte Türen desselben Typs durch die FAA inspiziert. Dabei kamen weitere Fälle von Unregelmässigkeiten und Fehlinstallationen zum Vorschein.

Damit ist klar belegt, dass Boeing weiterhin massive Probleme hat, seine Produkte mit der versprochenen Sicherheit und Qualität auszuliefern. Sowohl der Mangel an qualifiziertem Personal nach der Pandemie spielt hier eine Rolle wie auch der immense Druck von Boeing und Airbus auf ihre Zulieferer, immer schneller immer mehr zu liefern und dabei die Preise niedrig zu halten. «Dieser Druck, die Produktion zu erhöhen, hat die Gefahr von Herstellungsfehlern erhöht», sagte die amerikanische Analystin Sheila Kahyaoglu dem «Wall Street Journal».

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