Mittwoch, November 27

Spätestens seit Beginn der israelischen Bodenoffensive gegen den Hizbullah ist Libanons Süden zu einer Todeszone geworden. Doch in ein paar christlichen Dörfern nahe der Grenze harren die Bewohner immer noch aus.

Mira Khoury lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Die 42-Jährige lächelt gefasst, während sie in ihrem winzigen Büro mit zwei Handys und einem Festnetztelefon gleichzeitig hantiert. Immer wieder klingelt eines der Geräte, und sie muss das Gespräch unterbrechen. «Es sind furchtbare Zeiten», sagt sie dann jeweils, bevor sie sich um eine weitere Hilfslieferung kümmert, Diesel für die Generatoren besorgt oder mit dem Bürgermeister spricht, der gerade in Beirut weilt.

Khoury sitzt in der Gemeindeverwaltung von Kaukaba, im tiefen Süden Libanons. Das kleine Dorf befindet sich im Grenzgebiet zu Israel, wo sich die israelische Armee und der Hizbullah heftige Gefechte liefern. Weiter als bis nach Kaukaba kommt man nicht. Die Strasse, die von hier zur Grenze führt, wurde bei einem Luftangriff zerstört. Aus den umliegenden Hügeln schiesst der Hizbullah Raketen ab, Israels Luftwaffe schiesst zurück. Immer wieder hört man das Donnern der Explosionen.

Kaukaba blieb bisher verschont

In dem von hohen Bergkuppen und tiefen Tälern durchzogenen Gebiet herrscht schon länger Krieg. Seit der Hizbullah am 8. Oktober 2023 eine zweite Front gegen Israel eröffnet hat, fallen hier die Bomben. Doch so schlimm wie jetzt war es noch nie. «Oftmals donnert es die ganze Nacht hindurch», sagt Khoury, die eigentlich für ein Frauenmagazin arbeitet und nur nebenamtlich im Gemeinderat sitzt. «Manchmal denke ich: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es auch uns erwischt.»

Spätestens seit Israels Armee vergangene Woche in Südlibanon einmarschiert ist, um dort nach eigenen Angaben die Stellungen des Hizbullah zu zerstören, ist das Grenzland zu einem Schlachtfeld geworden: Vom Ufer des Mittelmeeres bis hinauf zum Gipfel des Bergs Hermon donnern Kampfjets am Himmel, Drohnen surren unentwegt, und an den Hängen schlagen immer wieder Bomben ein.

Kaukaba ist von alledem bisher verschont geblieben. Das Dorf wird fast ausschliesslich von Christen bewohnt, die hier in der Gegend eine Minderheit bilden. Im Gegensatz zur Mehrheit der Schiiten, die zu Hunderttausenden geflohen sind und deren Dörfer und Städte heftig bombardiert werden, stehen die Christen Südlibanons in dem Krieg abseits. Ihre Dörfer sind zu Inseln inmitten eines Meeres der Zerstörung geworden.

«Wir hängen an unserem Land»

Kaukaba wirkt friedlich. Das kleine Dorf ist blitzblank, entlang der Strässchen liegen kleine Häuser und uralte Olivenbäume. Oben auf einem Berg thront eine Statue der Mutter Gottes, die der Bürgermeister einst mit Spendengeldern errichten liess, um Touristen anzulocken. Doch der Parkplatz davor ist leer. Die dazugehörige Kirche ist immer noch ein Rohbau. Von der Aussichtsplattform sieht man die fernen Rauchwolken der Explosionen.

Noch harren die meisten der rund 2o0 Bewohner von Kaukaba aus. Aber die Lage werde immer schlimmer, sagt Elias Abou Nakol, ein Cafébesitzer, der gemeinsam mit seiner Frau und seinen drei Kindern auf gepackten Taschen sitzt. Seinen Laden hat er zugemacht. Seine Olivenbäume am Dorfrand kann er auch nicht mehr erreichen. «In ein paar Wochen fängt die Ernte an», sagt er. «Aber wegen des Krieges können wir nicht pflücken.» Die 183 Bäume sind für die Familie eine wichtige Einnahmequelle. «Wir haben damit die Schulgebühren für unsere Kinder bezahlt.»

Fliehen will er trotzdem nicht. Viele Bewohner der christlichen Dörfer fürchten, nie wieder zurückkehren zu können. Israels Beteuerungen, das Land nicht dauerhaft besetzen zu wollen, schenken sie keinen Glauben. «Wir hängen an unserem Land», sagt auch Tony Abou Nakol, ein Konditor, der seinen Betrieb ebenfalls schliessen musste und in seiner leeren Backstube steht. «Aber nach einem Jahr Krieg sind unsere Ersparnisse aufgebraucht.»

Weiter südlich hat der Exodus begonnen

Ein paar Kilometer südlich hat der Exodus schon begonnen. In Marjayoun, dem Hauptort der Grenzregion, sind die Strassen gespenstisch leer. Das Dorf liegt in Sichtweite zu Israel. Nur 195 der ursprünglich rund 8000 Einwohner seien noch hier, erzählt ein Priester, der nicht namentlich zitiert werden will. Der Gottesmann selbst denkt nicht an die Flucht. Er sei ein Hirte und müsse seiner Herde beistehen, sagt er.

Zwar wird auch Marjayoun nicht regelmässig bombardiert. Doch die Landstrassen, die aus dem Ort nach Norden führen, sind längst zum Ziel israelischer Angriffe geworden. Wer sich nach Marjayoun wagt, muss deshalb einen gefährlichen Umweg über Schotterwege nehmen, vorbei an dunkelgrünen Hügeln, wo angeblich Hizbullah-Stellungen liegen, und durch eine der sogenannten «roten Zonen», wo israelische Drohnen Jagd auf verdächtige Fahrzeuge machen.

In Marjayoun wurde das örtliche Spital getroffen, es gab zudem vereinzelte Drohnenangriffe. Die wenigen verbliebenen Bewohner sind misstrauisch und wollen kaum reden. Sie seien nur deshalb noch hier, weil sie nicht wegkönnten, sagen zwei ältere Frauen in einem kleinen Laden. «Wir haben kein Geld. Und Hilfe kommt auch fast keine an.»

Die Israeli waren schon einmal da

Immer wieder hört man dumpfes Donnern. Es sind Bomben, die auf das benachbarte Khiam fallen, ein Schiitendorf gleich an der Grenze, das als Hizbullah-Hochburg gilt. Und immer wieder sagen die Leute in Marjayoun und in Kaukaba, dass sie mit dem Krieg nichts zu tun haben wollen. Entkommen können sie ihm trotzdem nicht.

Noch sind die israelischen Truppen nicht bis hier vorgerückt. Ihre Bodenoffensive beschränkt sich bis jetzt auf Kommandooperationen im unmittelbaren Grenzgebiet. Dabei wäre es nicht das erste Mal, dass Israels Armee in den Dörfern im Süden operiert. Nachdem die Israeli 1982 schon einmal in Libanon einmarschiert waren, hielten sie das Gebiet fast zwanzig Jahre lang besetzt. Damals waren sie sogar von einer lokalen Christenmiliz – der südlibanesischen Armee (SLA) – unterstützt worden.

Viele ältere Leute erinnern sich mit gemischten Gefühlen an die Zeit der Besetzung. Die SLA galt als brutale Truppe. In Khiam betrieb sie ein Foltergefängnis. Gleichzeitig fanden vor allem christliche Libanesen jenseits der Grenze in Israel Arbeit. Nach dem Abzug der ungeliebten Besetzer im Jahr 2000 übernahm der Hizbullah die Macht im Süden. Wirtschaftlich geriet die Region jedoch ins Abseits. Man sei von der Zentralregierung vernachlässigt worden, sagt ein Mann in Marjayoun, der anonym bleiben will.

Eine Art Endzeitatmosphäre

Viele Christendörfer wirken daher wie aus der Zeit gefallen. Es sind vergessene Orte, mit verwitterten Fassaden und ältlichen Geschäften. Ausser den Jeeps und Tanklastern der libanesischen Armee, die mit hoher Geschwindigkeit über die leeren Strassen brettern, sind fast nur alte Männer unterwegs, die hinter den Lenkrädern zerbeulter Autos sitzen. All das verleiht den Dörfern eine Endzeitatmosphäre.

Gleichzeitig herrschen Angst und Paranoia. Man überprüfe ganz genau, wer ins Dorf komme, sagt Khoury, die Gemeinderätin von Kaukaba. «Wir wollen nicht, dass sich Hizbullah-Kämpfer bei uns verstecken und wir dann zum Ziel von Luftangriffen werden.» Trotzdem hat die Gemeinde ein Dutzend Flüchtlinge aufgenommen. Vor der zur Notunterkunft umfunktionierten Dorfschule sitzen ein paar verschleierte Frauen auf einem Mäuerchen in der Sonne. Sie kommen aus Halta, einem Sunnitendorf auf der anderen Seite des Tals.

Sie sei schon seit einem Jahr hier, erzählt eine von ihnen. Zurück könne sie nicht, das sei zu gefährlich. Weg wolle sie aber auch nicht. «Wir bleiben hier, solange wir können. Das ist mein Land, und ich werde es nicht zurücklassen.» Derweil explodieren im Hintergrund wieder Bomben. Von der etwas erhöht liegenden Schule aus kann man an einem fernen Berghang Rauch aufsteigen sehen. «Sie bombardieren Kfar Chouba, unser Nachbardorf», sagt eine der Frauen.

«Gott wird mich beschützen»

Man werde zumindest so lange ausharren, bis die ersten Bomben auf das Dorf fallen, sagt Khoury. «Dann müssen wir weiterschauen.» Derweil versucht sie, das Leben im Ort, so gut es geht, aufrechtzuerhalten. Doch das wird immer schwieriger. Das Handynetz funktioniert kaum noch, die für den Betrieb der Generatoren benötigten Diesellieferungen kommen nur noch selten durch. Nachts fällt inzwischen der Strom aus.

Am späten Nachmittag wird der Beschuss heftiger. Von den Hügeln hinter Kaukaba schiesst der Hizbullah eine Salve Raketen auf Israel ab. Dann taucht am Dorfrand wie aus dem Nichts plötzlich eine Schafherde auf. Der Hirte, ein alter Syrer mit einem Gesicht voller Furchen und Händen wie aus Leder, lacht fröhlich. Er habe keine Angst, ruft er, während er die Tiere seelenruhig einen Berghang hoch in Richtung des Kampfgebiets treibt. «Ich habe mehr als einen Krieg erlebt. Gott wird mich beschützen.»

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