Sonntag, Oktober 6

Das Bruttoinlandprodukt des Landes wächst, und die Arbeitslosigkeit ist tief wie nie. Doch Putins Kriegswirtschaft verheisst wenig Gutes für die Zukunft.

«Das Finanzministerium erlässt weitreichende Massnahmen gegen (Russlands) Finanzinfrastruktur» titelt eine Medienmitteilung des amerikanischen Finanzministeriums vom Juni dieses Jahres. Über 300 neue Sanktionen habe man erlassen, steht dort. Dazu gehören Massnahmen, die verhindern sollen, dass sich Russlands Rüstungs- und Kriegsindustrie mithilfe der beiden grössten russischen Staatsbanken und der Moskauer Börse finanzieren kann. Derweil hat die EU ihr bereits 14. Sanktionspakete gegen Russland beschlossen.

Der Umfang der von westlichen Ländern koordinierten Wirtschaftsrestriktionen gegen Russland hat ein zuvor ungekanntes Ausmass angenommen. Auch die Schweiz trägt die meisten EU-Sanktionen mit.

Die Kriegsindustrie floriert

Doch das Ziel, die Finanzierung und Fortsetzung des russischen Kriegs gegen die Ukraine zu verunmöglichen, haben all die Sanktionen nicht erreicht. Glaubt man den offiziellen russischen Statistiken (und tatsächlich spricht wenig dafür, dass diese auf breiter Basis gefälscht wären), so hat sich Russlands Wirtschaft nach einem schwachen Einbruch zu Kriegsausbruch rasch erholt und wächst nun schneller als früher.

Laut dem Institute for Emerging Economies der finnischen Zentralbank betrug die saisonbereinigte jährliche Wachstumsrate des russischen Bruttoinlandprodukts im 1. Quartal 2024 5,4 Prozent, diejenige der Investitionen gar 14,5 Prozent. Die Arbeitslosenquote ist auf 2,6 Prozent gefallen – den tiefsten Wert seit der Finanzkrise.

Haben die westlichen Sanktionen also nichts bewirkt?

Das wäre ein voreiliger Schluss. Hinter Russlands Wirtschaftsboom steckt die strukturelle Verwandlung in eine Kriegswirtschaft. Dazu kommen grosse Bauinvestitionen in die Transportinfrastruktur, damit russisches Erdöl und Erdgas besser nach Asien statt nach Europa verkauft werden können.

Wie stark der Krieg in der Ukraine Russlands Wirtschaft verändert, zeigt ein Vergleich der Entwicklung der kriegsnahen Industriezweige (Rüstung, Metallverarbeitung, Herstellung von elektronischem und optischem Zubehör, Transport) mit Russlands übriger Industrie. Letztere wächst nur sehr langsam. Das Produktionsvolumen der kriegsnahen Industrie hat sich hingegen laut einer neuen Publikation des Ökonomen-Think-Tanks Center for Economic Policy Research (CEPR) seit Kriegsausbruch um gut 60 Prozent erhöht und seit 2019 gar mehr als verdoppelt.

Boom wie in den USA im Zweiten Weltkrieg

Dahinter stecken enorme staatliche Ausgaben und Investitionen, um Russlands Kriegswirtschaft anzutreiben. Für das laufende Jahr rechnet die russische Regierung laut der CEPR-Studie mit einem Ausgabenwachstum von 13 Prozent und einem (weiteren) Anstieg der Militärausgaben um fast 70 Prozent. Diese werden dann fast ein Drittel des Staatshaushalts ausmachen.

Der russische Staat muss deswegen allerdings nicht wie die USA im Zweiten Weltkrieg Kriegsanleihen ausgeben. Auch dank dem hohen Erdölpreis konnte Russland in den ersten sieben Monaten des Jahres Waren für 240 Milliarden Dollar ins Ausland verkaufen – vor allem Erdöl und Erdgas, drei Viertel davon nach Asien. Damit ist Russland trotz den westlichen Sanktionen so erfolgreich, dass es weiter Handelsbilanzüberschüsse erwirtschaftet.

Das Russlands Wirtschaft derzeit boomt, hat also mit der Kriegswirtschaft zu tun, die auf vollen Touren läuft. Weil viele Rüstungsunternehmen in sonst eher strukturschwachen Gegenden wie dem Ural angesiedelt sind, ist auch dort die Arbeitslosenquote auf ein rekordtiefes Niveau gesunken.

Zusammen mit den für diese Regionen hohen Entschädigungen für Soldaten erhöht das die Kaufkraft. Die Inflation steigt dadurch zwar wieder und dürfte derzeit über 9 Prozent betragen. Kürzlich hat die russische Zentralbank deswegen ihren Leitzins für Ausleihungen auf 18 Prozent angehoben. Doch im Durchschnitt sind die Löhne in den vergangenen Jahren stärker gestiegen als die Preise – viele erwerbstätige Russinnen und Russen können sich also im Prinzip sogar mehr leisten als dem Einmarsch Russlands in die Ukraine. In den Grossstädten Moskau und Sankt Petersburg ist der Krieg weit weg. Wer sich nicht politisch äussert und keinen Repressionen ausgesetzt ist, kann in Cafés und Restaurants für Umsatz sorgen und den Sommer geniessen.

Passiert also mit Russland durch die Invasion in der Ukraine gerade Ähnliches wie in den USA im Zweiten Weltkrieg? Amerika wurde damals anders als Europa selbst nicht kriegsversehrt. Der Kriegseintritt und die Umstellung auf eine Kriegswirtschaft, in der die administrativ gesteuerten Bedürfnisse der Armee Priorität hatten, führten in den noch von der grossen Depression gezeichneten USA zwischen 1939 und 1945 zu einer Erhöhung des Bruttoinlandprodukts um mehr als die Hälfte. Die Arbeitslosenquote sank laut einer Publikation der Economic History Association von 14,6 auf 1,9 Prozent. Mit einer um die Rüstungsindustrie gruppierten innovativen Industrie gingen die USA schliesslich gestärkt aus dem Weltkrieg hervor.

Gefährliche Entwicklung – trübe Aussichten

Dass der verheerende Krieg in der Ukraine Russland mittelfristig gar stärken könnte, ist jedoch aus mehreren Gründen nicht zu erwarten:

  1. Rückfall in die staatliche Planwirtschaft: Die Umstellung auf Kriegswirtschaft geschieht nicht einfach so. Es ist sicher kein Zufall, dass der Kremlherrscher Putin kürzlich mit Andrei Belousow einen noch in der Sowjetunion ausgebildeten Wirtschaftsplaner zum neuen Verteidigungsminister ernannt hat. «Panzer statt Pflugscharen» wird Russland mittelfristig teuer zu stehen kommen. Zwar ist nicht das ganze Land militarisiert und sind auch noch keine Konsumgüter rationiert. Aber die in Russland sowieso gebeutelte Privatwirtschaft wird noch stärker verdrängt, der Einfluss der korrupten Bürokratie steigt weiter.
  2. Kaum Importsubstitution: Das rohstoffabhängige Russland ist stark auf westliche Technologie angewiesen. Die Sanktionen greifen hier. Versuche, westliche Technologie durch eigene Entwicklungen zu ersetzen, sind wenig erfolgreich, wie eine neue Studie zeigt. Russland importiert weiter westliche Produkte unter Umgehung der Sanktionen oder ersetzt sie durch asiatische, bleibt aber isoliert.
  3. Geringe Innovationskraft: In den USA entstand während der Kriegswirtschaft im Zweiten Weltkrieg ein auf Innovation getrimmter bedeutender militärisch-industrieller Komplex. Dieser beflügelte danach auch in Friedenszeiten technologische Durchbrüche im zivilen Sektor. Russlands Militärmaschinerie hingegen ist wenig innovativ und anders als in den USA nicht darauf ausgerichtet, im zivilen Betrieb (energie-)effizient verwendbare Produkte zu entwickeln. Die sowjetischen Auto- und Flugzeugbauer lassen grüssen; bis heute hat es Russland nicht geschafft, wettbewerbsfähige zivile Flugzeuge zu bauen.
  4. Fehlende Jugend: Russland hatte in den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine besonders tiefe Geburtenrate. Durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine sterben nun auch noch Zehntausende Soldaten, und Hunderttausende der fähigsten jungen Männer und Frauen sind aus dem Land geflohen. Russland wird nach dem Krieg noch stärker als bisher die innovative Jugend fehlen.
  5. Verschwendeter nationaler Wohlfahrtsfonds: Russlands Wirtschaft war und ist sehr stark vom Export fossiler Rohstoffe abhängig. Deren Vorräte sind begrenzt. Die internationale Klimapolitik will diese durch nachhaltigere Energien ersetzen. Um künftige Generationen an den Vorteilen des Rohstoffreichtums zu beteiligen, hat Russland deswegen einen nationalen Wohlfahrtsfonds geschaffen, in den Einnahmen aus dem Rohstoffgeschäft flossen. Dieser wird nun zur Kriegsfinanzierung verwendet und ist bald aufgebraucht, ohne dass Ansätze für eine weniger rohstoffabhängige zivile Wirtschaft erkennbar wären.

Leider konnten weder eine starke wirtschaftliche Verflechtung, wie sie vor dem Krieg zwischen Russland und Europa herrschte, noch so umfangreiche Wirtschaftssanktionen, wie sie der Westen verhängt hat, den klassischen Vernichtungs- und Zermürbungskrieg verhindern, den Russland in der Ukraine führt. Deutlich mehr Druck auf Putins Mannschaft entstünde wohl erst, wenn Russlands Rohstoffeinnahmen einbrächen.

Das heisst nicht, dass die westlichen Sanktionen alle wirkungslos sind. Sie erschweren Russland den Zugang zu westlichen Märkten und westlicher Technologie, schwächen seine private Wirtschaft und machen das Land einseitig abhängig von China. Ohne eine radikale Kehrtwende werden die Zukunftsaussichten des Landes immer düsterer. Auch wenn es scheint, als ginge es der Wirtschaft gut: Russland lebt gerade von der Substanz und wiederholt die alten Fehler, die einst zum Zusammenbruch der Sowjetunion führten. Wirtschaftlich und technologisch bleibt der Westen Russland weit überlegen.

Der Westen müsste einfach wie einst unter Führung des US-Präsidenten Ronald Reagan wagen, diese Vorteile im geoökonomischen Abnützungskrieg auch gezielt und koordiniert auszuspielen

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