Wenn es um die Demografie geht, sind sich der Papst und Giorgia Meloni einig: Der Trend muss gestoppt werden. Doch die Regierung setzt auf eine konservative Gesellschaftspolitik, in der alternative Modelle einen schweren Stand haben.
Jetzt ist sie wieder überall zu besichtigen, die Heilige Familie. In der Via San Gregorio Armeno in Neapel etwa, wohin dieser Tage Tausende Besucher gekarrt werden, um die dort ausgestellten traditionellen Krippen zu besichtigen. Aber auch in jeder anderen Ecke des Landes gibt es sie: in Kirchen und Schaufenstern, in den Eingangsbereichen von Geschäftshäusern, auf Ladentischen oder zu Hause. Rührende, kunstvolle, mitunter kitschige und überladene Szenen aus einem imaginierten Bethlehem, übersetzt und übertragen auf hiesige Verhältnisse. Es ist, als ob in Italien ein nationaler Wettbewerb um die üppigste, schönste Krippe ausgetragen würde.
Das Ganze wirkt aber auch so, als würde das Land dabei eine aussterbende Spezies besichtigen. Denn die Familie, deren Urbild die Heilige Familie der Weihnachtsgeschichte ist, steckt in einer tiefen Krise. Der Statistiker Roberto Volpi, Autor beachteter Bücher über die demografische Entwicklung Italiens, sagt: «Wir stehen davor, eine Gesellschaft ohne Familien zu werden.»
Gemeint ist die traditionelle Familie: Vater, Mutter mit einem oder mehreren Kindern. Volpi hat errechnet, dass im Jahr 2040 in Italien nur noch 24 Prozent aller Haushalte aus Familien mit Kindern bestehen werden. 39 Prozent werden dannzumal Einpersonenhaushalte sein. Die Zahl der Haushalte mit Paaren ohne Kinder wird bei 22 Prozent liegen, während Haushalte bestehend aus einem Elternteil mit Kindern und andere Familienformen die restlichen 15 Prozent bilden.
«Die italienische Familie versinkt in demografischen Abgründen, aus denen sie nicht wieder herauskommt», sagt Volpi. Wohl gebe es vergleichbare Entwicklungen auch in anderen westlichen Gesellschaften, aber nirgendwo sei das Problem so gravierend wie in Italien. Auch bei den Geburtenraten liegt das Land am Ende der Rangliste. «Die letzten Italiener», lautet der traurige Titel eines der erfolgreichsten Bücher von Volpi.
Trost, Fürsorge, Kredite, Waffen
Für eine Gesellschaft, in welcher der Mythos Familie eine so grosse Rolle spielt wie kaum anderswo in Europa, sind das geradezu furchterregende Szenarien. Italien ist durch und durch geprägt von Familiengeschichte(n): Sie reichen von der Sippe am langen Esstisch bis zum Sitzungstisch in der familieneigenen Firma; vom Muttersöhnchen bis zu seinen ihn hysterisch liebenden Eltern, von der Nonna in der Küche, die ihrer Enkelin kulinarische Geheimnisse weitergibt, vom gefallenen Sohn bis zum Clan – Familienbande gehen über alles.
Selbst im Umfeld von Giorgia Meloni spielen sie eine herausragende Rolle. Melonis Schwester Arianna gilt als die engste Vertraute der Ministerpräsidentin und führt persönlich die Geschicke der Fratelli d’Italia. Ariannas Ex-Partner Francesco Lollobrigida wiederum fungiert als Landwirtschaftsminister. Regieren als «family business».
«Die italienische Familie ist eine Festung in einem feindlichen Land. Innerhalb ihrer Mauern und in der Gemeinschaft findet der Einzelne Trost, Hilfe, Rat, Fürsorge, Kredite, Waffen, Verbündete und Komplizen, die ihm in seinen Unterfangen zur Seite stehen. Kein Italiener, der eine Familie hat, ist jemals allein.» Besser als der Journalist Luigi Barzini kann man es kaum formulieren. Barzini gehörte in den Nachkriegsjahren zu den aufmerksamsten Beobachtern des Landes und seiner Sitten und Gepflogenheiten und landete 1964 mit seinem Buch «The Italians» in den Vereinigten Staaten einen Bestseller. Als er seine Befunde niederschrieb, war von der Krise der Familie noch weit und breit nichts zu sehen.
Entscheidend: Einführung der Ehescheidung
Inzwischen hat sich die Situation geändert. Und die Politik, so scheint es, hat das Problem erkannt. Seit 2021 gibt es die sogenannten «Generalstände der Geburtenzahl». Dabei handelt es sich um Grossanlässe, welche Vertreter der Zivilgesellschaft, der Kirchen und der Institutionen zusammenbringen, um Lösungsansätze zu diskutieren.
Als Giorgia Meloni 2022 die Regierungsgeschäfte übernahm, erklärte sie das Thema zur ersten Priorität und baute das bisherige Familienministerium zum «Ministerium für Familie, Geburt und Chancengleichheit» um und aus. Spirituellen Flankenschutz erhielt sie vom Papst. Bei einem Treffen vor Unternehmern erklärte Franziskus das «Kinderzeugen» sogar zu einem patriotischen Akt.
Die seither diskutierten Massnahmen unterscheiden sich nicht grundsätzlich von jenen anderer Länder. Es geht um mehr Krippenplätze, besser ausgebaute familienergänzende Betreuungsangebote, finanzielle Anreize für Paare mit Kinderwunsch und generell bessere wirtschaftliche Perspektiven für Junge.
Dazu gesellen sich tieferliegende Kultur- und Mentalitätsfragen. «Früher», sagt der Statistiker Volpi, «hat man in Italien sehr jung geheiratet, um gemeinsam etwas aufzubauen und voranzukommen.» Die Heirat galt als Eintrittsticket in die Gesellschaft. Heute trete man erst vor den Traualtar, wenn man gegen alle Risiken abgesichert sei und sich im Leben bereits etabliert habe. Die Zeitspanne fürs Kinderkriegen werde damit immer knapper.
Von grösster Bedeutung im katholischen Italien war der Kampf um die Einführung der Ehescheidung. In einer Referendumsabstimmung von 1974 sprach sich eine überwältigende Mehrheit der Stimmberechtigten für das Recht auf Scheidung aus. Damit geriet die nach der katholischen Lehre als «unauflösliche» Lebensgemeinschaft geltende Ehe stark unter Druck. Der Abstieg der traditionellen italienischen Familie habe hier seinen Ursprung, sagt Volpi – um gleich anzufügen: «Ich würde aber nie behaupten, dass die Möglichkeit der Ehescheidung ein Fehler gewesen war.» Für viele Italienerinnen und Italiener war sie sogar eine echte Befreiung aus unmöglichen Situationen.
Niemand kann das wohl besser nachvollziehen als Giorgia Meloni selbst. Seit der Trennung von ihrem Partner lebt die Regierungschefin mit der gemeinsamen Tochter allein in einem Haushalt. Und auch ihre Schwester Arianna hat die Beziehung zu ihrem Mann kürzlich beendet.
Trotzdem prallen die Ideologien kaum so hart aufeinander wie beim Thema Zivilrechte. Geht es um Abtreibung, Leihmutterschaft, Adoption, künstliche Befruchtung und neue Familienformen, gibt es meist rote Köpfe im Parlament und auf den «piazze» des Landes. Melonis Partei wirft sich mit der Devise «Gott, Heimat, Familie» ins Getümmel und verteidigt traditionelle Lebensentwürfe, Linke und Liberale fordern rasche Liberalisierungsschritte.
Für besonderes Aufsehen hat jüngst der Beschluss der Regierung gesorgt, die in Italien verbotene Leihmutterschaft als sogenanntes Universaldelikt zu definieren. Danach kann künftig jede Italienerin und jeder Italiener, egal ob im In- oder Ausland, belangt werden, wenn er oder sie eine Leihmutterschaft durchführt, eine solche unterstützt oder bewilligt.
Durch die Hintertür
Wie der auf solche Fälle spezialisierte Südtiroler Anwalt Alexander Schuster erklärt, sind die Folgen des Entscheids noch unabsehbar. Aber er vermutet, dass dieser in letzter Konsequenz auch einen italienischstämmigen Richter treffen würde, der in einem südamerikanischen Land die Einwilligung für eine Leihmutterschaft erteilt. Verbringe dieser danach seine Ferien in Italien, könnten die Behörden zugreifen. Gleiches könnte für italienische Fachleute gelten, die irgendwo in einem Ethikrat sitzen und entsprechende Empfehlungen aussprechen. «Hunderte von Fällen» könnten rasch daraus entstehen, sagt Schuster.
Es war vielleicht der bisher spektakulärste Eingriff der Regierung von Giorgia Meloni im Bereich der Zivilrechte. In anderen Bereichen hält sie sich nach aussen eher zurück – und behindert Liberalisierungen, die ihr zu weit gehen, lieber durch die Hintertür. So etwa im Fall der vorgeschriebenen Beratungsgespräche für Frauen, die abtreiben wollen. Neu sollen hierfür auch sogenannte Lebensschutzorganisationen zugelassen werden. Einen unübersehbaren Streit gibt es zudem bei der Ausstellung von Geburtsurkunden für Kinder gleichgeschlechtlicher Eltern. Die Regierung sieht es nicht gerne, dass einzelne Bürgermeister angefangen haben, solche Dokumente autonom auszustellen, um die Betroffenen im Verkehr mit Ämtern und Institutionen zu unterstützen.
Rein demografisch sei das alles letztlich nicht relevant, meint der Statistiker Volpi. Aber es passt zum Gesamtbild. Italien tut sich schwer, sich von traditionellen Vorstellungen des Zusammenlebens zu lösen. Nach wie vor fühlt sich ein beachtlicher Teil der Bevölkerung einem Familienbild verpflichtet, wie es in den Weihnachtskrippen dieser Tage zur Schau gestellt wird: Vater, Mutter, Kind.

