Dienstag, Oktober 22

Am letzten EU-Gipfel war der Unmut der Bevölkerung über die Migration das grosse Thema. Einigen Regierungschefs ist diese Sicht allerdings zu einseitig.

Wie man Migranten davon abhalten kann, nach Europa auszuwandern, war das grosse Thema des EU-Gipfels der vergangenen Woche. Die Wahlergebnisse rechtspopulistischer Parteien waren jüngst zu gut, als dass sie von den Mitteparteien hätten negiert werden können.

Allerdings scheint es nicht allen Staatschefs zu behagen, wie einseitig dieses Thema angegangen wird. Einige von ihnen wiesen in der nichtöffentlichen Debatte angeblich auch darauf hin, dass Europa Migranten benötige. Sie würden die Lücken am Arbeitsmarkt füllen, die unter anderem eine Folge der niedrigen Geburtenrate sind.

Zu den Fürsprechern einer differenzierten Sicht gehörten laut Diplomaten Spanien, Belgien und Luxemburg. Aber auch der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis soll gesagt haben, dass legale Migration eine wirtschaftliche Notwendigkeit sei.

Trotz hoher Arbeitslosigkeit: Spanien will mehr Migranten

Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez hat sich in dieser emotionalen Debatte aber am klarsten positioniert. Sein Land habe die Wahl: Es könne offen sein für Zuwanderung und so eine blühende Wirtschaft haben oder sich abschliessen und zu einem armen Land werden. Das sagte er vor zwei Wochen im spanischen Parlament.

Auf den ersten Blick ist es eine erstaunliche Aussage. Spanien weist mit 11,5 Prozent die höchste Arbeitslosenrate in der EU auf – und es feiert diesen Wert erst noch als Erfolg. Fast überall sonst in Europa würde eine so hohe Arbeitslosigkeit als Problem gesehen, in Spanien war sie aber letztmals vor fünfzehn Jahren so niedrig.

Theorien, warum Spanien eine vergleichsweise hohe Arbeitslosigkeit aufweist, gibt es viele. Eine lautet, dass das Ausbildungswesen nicht jene Arbeitskräfte hervorbringe, welche die Firmen benötigten: Es «produziere» zu viele Akademiker ohne Fachwissen, während die Wirtschaft Spezialisten suche.

Gastarbeiter als Erntehelfer

Die Arbeitsmärkte von Luxemburg, Spanien und Belgien könnten ohnehin nicht unterschiedlicher sein. Den grössten Bedarf nach ausländischen Arbeitskräften hat in Spanien die Landwirtschaft, dort arbeiten viel mehr Nichtspanier als etwa im Hightech-Bereich.

Agrarbetriebe benötigen im Frühjahr und im Sommer Zehntausende von Erntehelfern, eine Ganzjahresanstellung können die Betriebe ihnen aber nicht bieten. Der Ruf des Agrarsektors ist zudem angekratzt. Er beschäftige irregulär eingewanderte Migranten und behandle sie in manchen Fällen schlecht, lautet der Vorwurf.

Sánchez will aber geordnete Verhältnisse. Im Sommer reiste er durch Westafrika und schlug dort einigen Regierungen Gastarbeiterabkommen vor. Diese sehen vor, dass Mauretanier, Gambier und Senegalesen für eine bestimmte Zeit nach Spanien kommen können, um in Bereichen tätig zu sein, in denen ein Mangel an Arbeitskräften herrscht.

Zwar dürfen sie in den ersten vier Jahren maximal neun Monate pro Jahr im Land arbeiten und müssen danach wieder nach Hause. Wer diese Auflage allerdings erfüllt, kann dann eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung für Spanien beantragen.

Luxemburg ist stolz auf seine Internationalität

Anders als Spanien weist der Kleinstaat Luxemburg durchwegs eine hochproduktive Wirtschaft auf. Der Bedarf nach Spezialisten ist gross, etwa im Finanzbereich. Allerdings erhöht der Zuzug von Experten den Bedarf an Arbeitskräften mit niedriger Qualifikation. Auch Hochqualifizierte müssen einkaufen oder gehen gerne auswärts essen. Hier arbeiten besonders viele Menschen aus Portugal, die im Land die grösste Ausländergemeinde bilden.

Die luxemburgische Regierung ist stolz auf die Internationalität. Sie hält das Land für das perfekte Beispiel für ein funktionierendes Europa ohne Grenzen. Die rechtspopulistische Partei ADR spielte lange Zeit eine geringe Rolle, bei den Europawahlen im Juni hat sie jedoch immerhin einen von sechs Sitzen gewonnen, die dem Land zustehen.

Belgien schliesslich ist in der Ausländerpolitik nicht so erfolgreich wie Luxemburg. Weniger als jeder zweite Ausländer von ausserhalb der EU arbeitet. Das ist im Staatenbund der schlechteste Wert. Gleichzeitig hat sich etwa die grüne Partei Ecolo (Wallonien) bereits vor über zwei Jahren für die legale Beschäftigung von Migranten ohne Papiere ausgesprochen – ein Projekt, das kaum Chancen hat.

Europa muss seine Migrationspolitik neu arrangieren. Bei der irregulären Zuwanderung gestaltet sich die Konsensfindung schwierig. Genauso anspruchsvoll dürfte es sein, ein System zu finden, um Migranten auf geordnete Weise in den Arbeitsmarkt zu bringen. Die Ansprüche der Länder sind stark unterschiedlich, selbst die jener Staaten, die am EU-Gipfel eine breitere Sicht auf das Thema anmahnten.

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