Donnerstag, Oktober 3

Die Russen wollen vor der Schlamm- und Regenzeit noch einmal so viel Gelände wie möglich gewinnen. Moskaus Überlegenheit, aber auch hausgemachte Probleme erhöhen den Druck auf die Verteidiger.

Der Krieg in der Ukraine wäre auch ohne feuerspeiende Drachen-Drohnen furchterregend genug. Seit Anfang September setzen die Verteidiger diese ungewöhnliche Waffe gegen die russischen Angreifer ein: Sie greifen aus der Luft an und werfen Thermit über den feindlichen Positionen ab – ein über 2000 Grad heisses Gemisch aus flüssigem Eisen und Aluminium. Es setzt Bäume und Holzbunker in Brand und brennt sich sogar durch Metall.

Die Russen verlieren damit ihre Deckung und ihren Schutz. Stark ist die psychologische Wirkung: Eine ganze Stellung, die Feuer fängt, macht Angst und lähmt. «Wir müssen uns tiefer eingraben. Feuerfester Backstein und Beton wären ideal. Aber wir nehmen alles, was wir in die Hand kriegen», schreibt ein russischer Soldat auf Telegram. Um die Feuer zu löschen, brauche er «Sand, viel mehr Sand, und Wasser».

Die Drachen-Drohnen tauchen inzwischen an verschiedenen Frontabschnitten zwischen Saporischja im Süden und Charkiw im Norden auf. Massenhaft eingesetzt werden sie nicht. Sobald der Herbst kühles und nasses Wetter bringt, büssen sie ihre Wirkung ein. Wunderwaffen sind sie nicht.

Reserven in Kursk und im Donbass

Das zeigt sich an der Front, wo die Lage für die Ukraine schwierig bleibt. Derzeit herrscht so viel Bewegung wie seit langem nicht mehr – in beide Richtungen. Das nördliche Ende der Kampfzone bildet die russische Region Kursk, wo die Ukrainer seit dem 6. August knapp 900 Quadratkilometer besetzt haben. Das Gebiet ist in den letzten Wochen zwar kaum mehr gewachsen, doch die Ukrainer behalten die Oberhand. So bleibt eine grössere Zahl russischer Truppen vom Nachschub abgeschnitten. Beide Seiten verlegen auch weiterhin signifikante Reserven in das Gebiet.

Enttäuschend ist für die Ukrainer, dass die Russen keine Einheiten aus dem Donbass nach Kursk verlegt haben, was den Druck auf die Ostfront verringert hätte. Dort sind die Invasoren bis auf wenige Kilometer an die wichtige Stadt Pokrowsk herangerückt. Um den Fall der wirtschaftlich und logistisch zentralen Ortschaft zu verhindern, haben die Ukrainer Verstärkung in die Region entsandt. Diese hat zwar den Vormarsch nicht gestoppt, wie dies der ukrainische Oberkommandierende Olexander Sirski jüngst behauptete. Aber sie hat ihn verlangsamt.

Die Bilanz ist allerdings durchzogen: So hat sich die Front östlich von Pokrowsk etwas stabilisiert, nördlich davon wurden die Russen in der Stadt Nju-Jork gar zurückgedrängt. Das ist wichtig für die Ukrainer, um die Verbindung zwischen den verschiedenen Frontabschnitten im Donbass aufrechtzuerhalten.

Allerdings scheinen die Russen das Gewicht ihrer Operationen verlagert zu haben: Während sie vor Pokrowsk ihre Flanken sichern, rücken sie im Süden weiter auf die Festungsstädte Kurachowe und Wuhledar vor. Die Lage bleibt für die Ukrainer unkontrolliert, zumal die Angreifer inzwischen viele Verbindungsstrassen halten. Mittelfristig droht Kiew den Südosten der Region Donezk zu verlieren.

Russlands Überlegenheit an Truppen und Material zeigt im Abnützungskrieg Wirkung. Besorgniserregender für die Ukrainer sind aber die sich häufenden Meldungen über grobe Fehler bei der Kommunikation. So gibt es Berichte über Einheiten, die sich zurückzogen, ihre Positionen aber aus Angst vor einer Bestrafung falsch angaben. Die Arbeit der benachbarten Brigaden erschwert auch der unkoordinierte Einsatz von Störsendern, die teilweise die eigenen Drohnen zum Absturz bringen.

Russlands riesige Verluste seit Anfang September

Die entscheidende Frage für Kiew wie Moskau lautet, wie viele Reserven sie haben, um die Bewegung an den Fronten auszunutzen. Generell ist Russland im Vorteil: Das Land hat eine viermal so grosse Bevölkerung wie die Ukraine, und seine Armee hat bereits früh ein System entwickelt, um die horrenden Verluste zu ersetzen.

Doch der ausgesprochen hohe Materialverschleiss ist seit Anfang Monat noch einmal enorm angewachsen. Der Analyst Andrew Perpetua, der jedes verlorene Fahrzeug beider Seiten dokumentiert, präsentierte am 1. September eine Liste, die «mehr als doppelt so lang wie der bisherige Rekord» sei. Gemäss dieser verlor Russland an einem einzigen Tag 114 Fahrzeuge, die Ukraine dagegen nur 31.

Wie lange die Russen unter diesen Umständen ihre Sturmangriffe aufrechterhalten können, bleibt unklar. Vor Beginn der Regen- und Schlammsaison versuchen sie aber weiterhin vorzurücken. So zeigen sich ukrainische Beobachter besorgt über feindliche Gebietsgewinne im Süden der Region Charkiw. Auch dort wehren die ausgelaugten Verteidiger seit fast zwei Jahren ständige Angriffe ab.

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