Donnerstag, September 19

Die angebliche Spaltung der USA beruht auf einer verzerrten Wahrnehmung, die von verschiedenen Akteuren geschürt wird. Denn in zentralen Fragen ist sich die Mehrheit ziemlich einig.

Die USA stellt man sich heutzutage oft so vor: Zwei Blöcke – die Demokraten und die Republikaner – stehen sich unversöhnlich gegenüber, reden kaum noch miteinander und werden immer radikaler. Dazwischen gibt es eine kleine Gruppe von Gemässigten, die inmitten dieser Polarisierung kaum Relevanz hat. Obwohl die Rede von der gespaltenen amerikanischen Gesellschaft inzwischen zur Binsenwahrheit geworden ist, gibt es Zweifel, ob sie die Wirklichkeit abbildet.

Fast die Hälfte betrachtet sich als parteiunabhängig

Diejenigen, die sich mit keiner der beiden grossen Parteien identifizieren, machen nämlich entgegen dem Anschein keine verschwindende Minderheit aus, sondern die Mehrheit. Laut einer Gallup-Umfrage von 2023 zählen sich 43 Prozent der amerikanischen Erwachsenen zu den «Unabhängigen», aber nur jeweils 27 Prozent identifizieren sich als Republikaner oder Demokraten. Entgegen der Rede von der zunehmenden Polarisierung werden die Unabhängigen keinesfalls zwischen den Blöcken zerrieben. Im Gegenteil, ihre Zahl nimmt seit 2008 zu. Der Wahlkampf und die Präsidentschaft von Donald Trump, der wegen seines polemischen Stils oft für die angebliche Radikalisierung verantwortlich gemacht wird, taten diesem Trend keinen Abbruch.

Auch innerhalb der Parteien werden die Gemässigten unterschätzt. Sie machen sowohl bei den Demokraten als auch bei den Republikanern etwa jeweils die Hälfte aus. Das heisst, alles in allem – Unabhängige und moderate Parteigänger zusammengezählt – kommen die Gemässigten auf etwa 70 Prozent der Bevölkerung.

In der Öffentlichkeit werden sie übersehen, weil sie in den Medien kaum vorkommen. Die Extremen sind für Journalisten interessanter und generieren mehr Klicks. Zudem beteiligen sich die «Independents» weniger an den aufgeheizten Diskussionen und Polemiken in den sozialen Netzwerken, die von relativ wenigen bestritten werden, aber überproportionale Aufmerksamkeit erheischen. Die sozialen Netzwerke mit ihren Filterblasen wirken als Echoräume, die rigide Vorstellungen verstärken.

Die schweigende Mehrheit

Dasselbe lässt sich bei den Politikern beobachten. Sie kämpfen mit möglichst dramatischen Aussagen und der Verteufelung ihrer Gegner um Scheinwerferlicht und Wählerstimmen, etwa, indem die Demokraten ihre Gegner als Faschisten bezeichnen und die Republikaner ihre Gegner als Kommunisten. Die Wechselwähler geraten dabei aus dem Blickfeld und werden das, was man früher die schweigende Mehrheit nannte.

Ein paar Beispiele, die den verbreiteten Alarmismus relativieren: Die Mehrheit der Amerikaner sind keine christlichen Nationalisten oder fanatischen Evangelikalen, die in Trump ihren Messias sehen. Zwei Drittel der Bevölkerung lehnen diese Art Fundamentalismus ab, nur 47 Prozent sind überhaupt noch Mitglied einer Religionsgemeinschaft.

Es ist auch nicht so, dass die meisten Republikaner Abtreibung vom Tag der Empfängnis an verbieten wollen und die Demokraten sie bis zur Geburt erlauben möchten. Die Mehrheit der Amerikaner trifft sich – parteiübergreifend – irgendwo dazwischen. 63 Prozent sind für die prinzipielle Legalisierung der Abtreibung.

Und selbstverständlich skandiert nur eine kleine Minderheit der Studenten antiisraelische, antisemitische oder antimuslimische Slogans. Die wenigsten Professoren und ihre Schüler beschäftigen sich tagein, tagaus mit postkolonialen Theorien, Critical Race Theory oder der Verwendung der korrekten Pronomen für Genderfluide. Die meisten studieren Wirtschaft, Medizin, Jus oder Physik, twittern kaum und interessieren sich auch nicht für die hysterischen politischen Talkshows im Fernsehen.

Grosse Einigkeit über grundsätzliche Fragen

In den meisten grundsätzlichen Fragen sind sich die Amerikaner durchaus einig. Über 90 Prozent der Bürger erachten folgende Themen als wichtig: Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit, Stimmrecht, Gleichheit vor dem Gesetz, das Recht auf Privatsphäre. Für 80 Prozent ist das Recht, eine Waffe zu tragen, wichtig. Auch hier ist bemerkenswert, wie parteiübergreifend der Konsens ist, obwohl oft suggeriert wird, das sei primär ein republikanisches Anliegen.

Interessant ist das Klimathema. Bei Umfragen fungiert es als drittwichtigstes Anliegen der Bürger. Zugleich sind die Befragten jedoch der Ansicht, dass sie mit dieser Sorge allein dastehen und die andern sich nicht darum kümmern würden. Verallgemeinert könnte man sagen, dass viele Amerikaner ein verzerrtes Bild davon haben, was andere denken. Die Polarisierung ist eher gefühlt als real.

Es handelt sich um das, was Forscher wie Lilliana Mason von der Johns Hopkins University als «Polarisierungsparadox» bezeichnen: Linke und rechte Amerikaner sind sich in ihren Anliegen und Überzeugungen näher, als sie glauben. Die grösste Wahrnehmungsverzerrung findet sich bezeichnenderweise bei politisch Engagierten. Egal, ob sie auf lokaler oder auf nationaler Ebene tätig sind: Sie definieren sich, je länger sie sich in diesem System bewegen, immer mehr über ihre Partei, verkehren mit ihresgleichen und bestätigen sich gegenseitig in ihren Vorurteilen.

«Neutrale» haben es in der Politik schwer. Deshalb repräsentiert das Repräsentantenhaus die Bevölkerung immer weniger. Das könnte mit ein Grund für das verbreitete Misstrauen gegenüber dem «Washingtoner Sumpf» sein.

Trotzdem: Selbst die Positionen der beiden Parteien sind sich oft ähnlicher, als dies in Europa der Fall ist. Viele Demokraten würden, vor allem wenn es um Wirtschaftsprogramme geht, in der Schweiz eher zur FDP als zur SP gezählt. Das gilt auch für aussenpolitische Fragen: Der harte Kurs gegenüber China wird von Liberalen wie Konservativen geteilt, und beide Parteien sehen kaum ein Problem in der hohen Staatsverschuldung.

Das heisst: Die Polarisierung ist unter Politikern zwar grösser als in der breiten Bevölkerung; aber selbst in Washington wird sie hochgespielt und dramatisiert. Nicht einmal unter den «Profi-Polarisierern» ist sie so drastisch, wie sie dargestellt wird.

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