Samstag, Oktober 19

Donald Trump macht im Wahlkampf vieles falsch, trotzdem kann Kamala Harris ihn nicht überholen. Überlegungen zur Anziehungskraft des ehemaligen und vielleicht zukünftigen Präsidenten.

Es gibt nachvollziehbare Gründe, warum voraussichtlich rund die Hälfte der Amerikaner Donald Trump wählen wird: die unkontrollierte Einwanderung, die Teuerung, die Fentanyl-Krise, die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten. Bis vor kurzem war auch verständlich, warum viele dem altersschwachen Biden nicht mehr zutrauten, das Land zu führen. Aber man kann sich fragen, ob diese Motive wirklich reichen, um Trumps Erfolg zu erklären – vor allem, seit der Kandidat Biden durch seine Vizepräsidentin Kamala Harris ausgewechselt wurde.

Immerhin hat sie taktisch und strategisch seit ihrem Antritt vieles richtig gemacht, während Trump insbesondere bei der TV-Debatte und einigen Wahlkampfauftritten einen schlechten Eindruck hinterliess. Trotzdem bleibt es ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Die Frage ist: Gibt es noch weniger naheliegende Gründe, die Trumps Erfolg erklären?

Der Anti-Establishment-Kandidat

Es wurde schon oft erwähnt, dass andere Politiker nach so vielen Skandalen längst aus dem Rennen wären. An Trump bleibt nichts hängen, ja seine Beliebtheit scheint sogar mit jedem Fehltritt zu wachsen. Berühmt ist sein Ausspruch vom Januar 2016, also noch vor seiner Wahl: «Ich könnte mitten auf der 5th Avenue jemanden erschiessen und würde keine Wähler verlieren.» Inzwischen – nach dem Capitol-Sturm vom 6. Januar 2021, Trumps unzähligen Prozessen und seiner Verurteilung in New York – neigt man dazu, ihm recht zu geben. Er hat ja buchstäblich selbst aus seiner Verurteilung Profit geschlagen: Anstatt die gerichtliche Niederlage zu verschweigen, liess er T-Shirts mit seinem Mugshot drucken, die unter seinen Anhängern Kult wurden.

Die faszinierende Fähigkeit, jeden Verlust in einen Gewinn umzumünzen, hat möglicherweise mit einer Eigenart Trumps zu tun, die in Amerika gelegentlich «Politik des Stinkefingers» genannt wird.

Denn Trump ist von Anfang an als Anti-Establishment-Kandidat angetreten. Er wurde zwar als Multimillionär geboren und gehörte zur Finanzelite, aber nicht zur Welt von Washington. Auch nach vier Jahren im Weissen Haus konnte er sich die Aura des Anti-Politikers bewahren. Er schafft einen ungewöhnlichen Spagat: Er profitiert von der Faszination seines Reichtums, zugleich gibt er den Underdogs das Gefühl, im Kampf gegen die Mächtigen auf ihrer Seite zu stehen.

Aber vielleicht handelt es sich gar nicht um einen Widerspruch. Die Extreme berühren sich. Sowohl der Milliardär wie der Habenichts pfeifen oft auf die bürgerlichen Tugenden des Mittelstands. Der Reiche, weil er es sich leisten kann, der Arme, weil er nichts zu verlieren und die Hoffnung aufgegeben hat, es dank Fleiss und Mässigung eines Tages zu schaffen. Es sind dieser Nihilismus und diese Amoralität, die Trump für so viele verführerisch machen. Auch wenn er nicht so aussieht, verkörpert er für seine Fans eine Art Punk – in seiner Wut, seiner Rücksichtslosigkeit, seiner Lust am Negativen, Zerstörerischen und Apokalyptischen. «No future». Dazu passt, dass sogar der Ur-Punk Johnny Rotten, der ehemalige Sänger der Sex Pistols, für Trump stimmte. Zur Outlaw-Attitüde passt auch Trumps Vorliebe für Gangster- und Mafiafilme. Tatsächlich kokettiert er bei seinen Reden oft mit der Gestik und Sprechweise von Mobstern.

Trump vertritt das Es, die Demokraten das Über-Ich

Psychologisch könnte man es so ausdrücken: Trump steht auf der Seite des Es – also von allem, was das Emotionale, Spontane und Triebhafte des Menschen ausmacht. Er spricht aus, was ihm gerade durch den Kopf geht, auch wenn es dem widerspricht, was er vor kurzem gesagt hat. Das wirkt manchmal beneidenswert frech. Denn wer leidet nicht gelegentlich unter den Anforderungen der Vernunft, der Normalität und des Anstands, und wer träumt nicht manchmal davon, «unmöglich» zu sein? Gerade in den Zeiten der politischen Korrektheit und der immer komplizierteren Anforderungen des woken Zeitgeistes an gendergerechten und inklusiven Jargon.

Das Problem ist, dass die dauerempörten Gegner Trumps dem Stinkefinger den erhobenen Zeigefinger entgegenhalten und noch mehr auf der Moral insistieren, von der die Trumpisten eben gerade die Schnauze voll haben. Je mehr die einen die Freuden des Egoismus, der dreckigen Witze und des Zynismus auskosten, umso mehr verfallen die anderen in die Rolle der Gouvernanten und der staatstragenden Sittenpolizei – also des Über-Ich, des Verfechters von Verboten und der gesellschaftlichen Ordnung. Während die einen rufen: «Ist mir doch egal!», mahnen die anderen: «Das darf man doch nicht!» Und beide schaukeln sich gegenseitig hoch.

Dabei machen sich beide Seiten etwas vor. Die Linken vergessen gelegentlich, dass es beim Feminismus, beim Kampf für sexuelle Minderheiten und beim Anti-Rassismus ursprünglich um Befreiung und nicht um Korrektheit ging. Die Rechten hingegen blenden aus oder kaschieren, dass Trump und seine Kumpanen zwar mit dem Schlachtruf der Freiheit durchs Land ziehen, aber gleichzeitig eine illiberale, repressive und autoritäre Seite besitzen. Trump ähnelt dabei Seelenverwandten wie Silvio Berlusconi oder Boris Johnson, die ebenfalls gelegentlich als Anarchisten erschienen, aber die Schrankenlosigkeit in erster Linie für sich selbst beanspruchten. Solche Narzissten haben Charisma und Unterhaltungswert, weil sie spüren, was die anderen wollen, verfügen jedoch über wenig Mitgefühl.

Was Trump hat, aber Leute wie DeSantis oder Vance nicht

Die Ironie der Geschichte: Früher provozierten die Linken alles Arrivierte – die Bildungsanstalten, die Leitmedien, die Elite und die etablierte Kultur; heute stehen sie auf der Seite der Wohlanständigkeit, und es sind Leute wie Trump, die dauernd Grenzen überschreiten. Dabei sind ihre vulgären, respektlosen Beleidigungen nicht nur ein Nebenaspekt; Rebellion und Disruption werden zum Programm erhoben. Ebenso ironisch ist, dass ausgerechnet ein 78-Jähriger heute diese pubertäre Lust am Schockieren, am Nein und am radikalen Dissens verkörpert.

Es gibt übrigens, nebst dem Punk, noch eine andere Figur, die Trump überraschend nahe steht: Der Rapper, und zwar insbesondere jener Typus, der einerseits einen Hyperkapitalismus mit Goldketten, exklusiven Autos, teurem Cognac und Vorzeigefrauen zelebriert und andererseits den ausgegrenzten Ghetto-Gangster markiert. Auch er ist sowohl eine Karikatur wie auch ein Feind des Systems. In der Tat hat Trump überraschend viele Anhänger in dieser Szene.

Der Charakterzug, der Trump so erfolgreich macht, wird besonders deutlich, wenn man Trump mit Politikern vergleicht, die ähnliche Programme vertreten. Wenn Ron DeSantis oder Vivek Ramaswamy als republikanische Anwärter gegen Trump antraten, wirkten sie oft wie schlechte Kopien. Das gilt auch für Trumps Vize, J. D. Vance, der immer eine Rolle zu spielen scheint.

Was ihnen abgeht, ist die Authentizität, die Selbstsicherheit, die Unbekümmertheit, die bei vielen den Eindruck erweckt, Trump – selbst wenn er den Durchschnittsamerikaner spielt – sei echt und eben kein Heuchler wie all die anderen Politiker mit ihren kalkulierten Reden. Niemandem gelingt es so wie Trump, dermassen viele gegensätzliche Rollen in sich zu vereinigen: erfolgreicher Geschäftsmann, Ex-Präsident, Rebell, Trickster, Gangster, Playboy, Abtreibungsgegner, evangelikaler Messias, Milliardär, Mann aus dem Volk, New Yorker, bodenständiger Konservativer, Fernsehstar, Familienmensch und Outlaw.

Das Wie macht es aus, nicht das Was

So wie seine Rollen ändern sich auch seine politischen Botschaften. Es ist schwer zu sagen, woran er «wirklich» glaubt. Auch deshalb ist es zweifelhaft, ob seine Popularität in erster Linie von seinem Programm herrührt. Vermutlich ist die Form wichtiger als der Inhalt. Manchmal kann er innerhalb einer Rede etwas und auch das Gegenteil davon behaupten. Aber was zählt, ist das Wie.

Vielleicht ist es gerade das Ignorieren von Stringenz und Logik, das ihn verführerisch macht. Rationalität, das klingt schliesslich immer etwas nach Schule und Disziplin. Sich hingegen die Welt zu machen, wie sie einem gefällt, und ohne Rücksicht auf Widersprüche zu fabulieren, das macht Spass. Das erfährt man bei Pippi Langstrumpf oder auch einfach nach ein paar Gläsern. In dieser hemmungslosen Vermischung von Realität und Phantasie und auch beim Tabubruch ist man, um nochmals psychoanalytisch zu werden, näher beim Unbewussten, beim Lustprinzip, beim Es und vielleicht beim wahren Ich. Jeder wäre gerne gelegentlich so spontan und unzensuriert, aber nur wenigen ist es wie Trump vergönnt, dies in aller Öffentlichkeit zu wagen und damit sogar Präsident zu werden.

Solche Kühnheit erzeugt Bewunderung. Womit Trump zu einem Wunschbild wird, einem Ideal-Ich. Mit so jemandem identifizieren sich viele, die sich sonst fremd in ihrem eigenen Land fühlen. Teils nehmen sie ihn als einen von ihnen wahr, teils wären sie gerne so wie er. Während sie sich vom Repräsentantenhaus und ganz «Washington» kaum noch repräsentiert fühlen, geniessen sie sogar Trumps dunkle und apokalyptische Seite – wie einen Horrorfilm, der ihre schlimmsten Ängste und Albträume ausdrückt. Donald Trump nimmt sich heraus, was wir uns verbieten. Deshalb empfinden viele ein Gefühl von Befreiung, wenn sie ihn erleben.

Exit mobile version