Syrien hat die Chance auf eine Demokratie, wenn auch eine kleine. Der Moment ist günstig, um auch Russland und Iran zu Kompromissen zu zwingen. Dafür muss Trump die Herausforderungen erkennen, vor denen die Region steht.
Der amerikanische Präsident Joe Biden hat die Lage in Syrien am Wochenende treffend geschildert: Nach einem jahrelangen Bürgerkrieg biete sich dem Land eine «historische Gelegenheit», sich eine bessere Zukunft aufzubauen. Aber es sei auch ein Moment mit beträchtlichen Risiken und Unsicherheiten.
Washington wolle dabei helfen, diese Risiken zu minimieren, um ein unabhängiges Syrien mit einer neuen Verfassung und einer «neuen Regierung für alle Syrer» zu schaffen. «Es wäre eine Vergeudung dieser historischen Chance, wenn ein Tyrann gestürzt worden wäre, nur damit ein anderer seinen Platz einnehmen kann.»
Der scheidende Präsident nutzte die Gelegenheit, die neue Ausgangslage als Erfolg seiner Politik zu verkaufen: «Unsere Herangehensweise hat die Machtbalance im Nahen Osten verändert.» Dank amerikanischer Unterstützung hätten die Ukraine und Israel die Verbündeten des syrischen Regimes – Russland, Iran und die Hizbullah-Miliz – massiv geschwächt. Deshalb biete sich nun die Gelegenheit für einen «sichereren und prosperierenderen Nahen Osten».
Ein historischer Moment für die Welt
Optimistisch gedacht, könnten die USA dabei helfen, Syrien zu einem demokratischen Staat zu entwickeln und das geschwächte Iran zu Zugeständnissen zu zwingen. Teheran müsste sein Atomprogramm herunterfahren, die Entwicklung von ballistischen Raketen einschränken, die Hilfe für ausländische Milizen kappen und die Waffenhilfe für Russland im Krieg gegen die Ukraine einstellen.
Für die USA wäre dies ebenso ein guter Moment dafür, neue Hilfsgelder und Waffenlieferungen an Kiew zu beschliessen. Sie könnten die russische Verunsicherung ausnutzen und Putin davon überzeugen, dass für ihn auch der Krieg in der Ukraine nicht zu gewinnen ist. Da radikale Kräfte wie die Hamas innerhalb des palästinensischen Widerstands geschwächt sind, könnte Washington zudem eine neue diplomatische Offensive für eine Zweistaatenlösung in Verbindung mit einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und Saudiarabien starten. Langfristig könnte dies den Weg zu einer israelischen Verständigung mit Libanon und Syrien ebnen.
Im Grunde ist dies ein historischer Moment, wie ihn sich Biden wohl schon früher gewünscht hätte. Ein Moment, in dem sich die immanente Schwäche autoritärer Regime offenbart und sich der starke Freiheitswille eines Volkes durchsetzt. Ein Moment, in dem die Demokratie über die Tyrannei siegen könnte.
Drei Probleme für einen baldigen Wandel
Es gibt jedoch drei Probleme dabei: Bidens Amtszeit dauert erstens nur noch wenige Wochen. Die Risiken in Syrien sind zweitens derart gross, dass Freiheit und Demokratie vermutlich nur eine kleine Chance haben. Und drittens übernimmt im Januar mit Donald Trump ein amerikanischer Präsident die Macht, der kaum etwas in eine freiheitliche Ordnung in Syrien investieren dürfte, da er nie an diese Revolution geglaubt hat. In einem Tweet schrieb er 2013: «Vergesst nicht, all diese ‹Freiheitskämpfer› in Syrien wollen mit Flugzeugen in unsere Gebäude fliegen.»
Biden erkennt die grossen Risiken. «Einige der Rebellengruppen, die Asad stürzten, blicken selbst auf eine Geschichte des Terrors und der Menschenrechtsverletzungen zurück», sagte der amerikanische Präsident am Sonntag. Die einflussreichste Miliz in Syrien – die Hayat Tahrir al-Sham – steht auf der Terrorliste der USA. Washington hat ein Kopfgeld von zehn Millionen Dollar auf ihren Anführer Mohammed al-Julani ausgesetzt. Er war früher ein Mitglied der Kaida und kämpfte gegen die amerikanischen Besetzer im Irak. Doch 2016 brach er mit der Terrororganisation und gibt sich seither moderat.
Vermutlich hätte Biden in Syrien eine politische Lösung mit Asad bevorzugt. Da der Hizbullah, Iran und Russland geschwächt waren, versuchte Washington in den vergangenen Wochen offenbar mit dem Regime in Damaskus ins Geschäft zu kommen. So schilderte es der Journalist David Ignatius kürzlich in einer Kolumne für die «Washington Post».
So sei Biden bereit gewesen, die Sanktionen gegen Syrien zu lockern, wenn Asad im Gegenzug iranische Waffenlieferungen an den Hizbullah unterbinde. Unterstützt wurde diese diplomatische Initiative auch von den arabischen Golfmonarchien in Riad und Abu Dhabi, die sich vor einem revolutionären Islam fürchten. Doch der schnelle Sturz des Asad-Regimes setzte dem Vorhaben ein jähes Ende.
Der «Grundpfeiler» steht auf dem Spiel
Nun muss Washington klären, wie es mit den Rebellen auf seiner Terrorliste umgehen soll. Über die Türkei hat der amerikanische Aussenminister Antony Blinken eine Nachricht an die neuen Machthaber in Damaskus geschickt. Er betonte die Wichtigkeit des Schutzes von Zivilisten in Syrien, insbesondere für Angehörige von Minderheiten. Verteidigungsminister Lloyd Austin schärfte seinem Amtskollegen in Istanbul ein, jegliches Risiko für die Partner der USA in Syrien zu unterbinden.
Die Appelle an die türkische Hauptstadt sind kein Zufall. Keine andere Regierung hat derzeit mehr Einfluss auf die syrischen Rebellen in Damaskus als die von Recep Tayyip Erdogan. Auch sein oberstes Ziel war nicht der Sturz des Asad-Regimes. In erster Linie will er die Entstehung eines kurdischen Autonomiegebiets in Syrien verhindern. Dafür finanzierte die Türkei mit der Syrischen Nationalen Armee ein eigenes Rebellenbündnis, das Istanbul auch bei seinen Offensiven gegen die kurdisch geführten Syrian Democratic Forces (SDF) in Nordsyrien eingesetzt hat.
Die SDF sind indes die wichtigsten Verbündeten der USA im Kampf gegen den Islamischen Staat. Sie halten in ihren Gefängnissen östlich des Euphrats über 10 000 Kämpfer des Islamischen Staats sowie deren Frauen und Kinder gefangen. Zudem kontrollieren sie den Grossteil der syrischen Erdölfelder. Die USA haben derzeit rund 900 Soldaten an verschiedenen Standorten stationiert, um die SDF auszubilden und mit Luftangriffen im Kampf gegen den IS zu unterstützen. Amerika werde kein Vakuum in Syrien zulassen, in dem die Terrormiliz wieder erstarken könnte, versprach Biden.
Der amerikanische Einfluss auf die Neuordnung in Syrien ist zwar begrenzt. Aber Biden scheint gewillt, die vorhandenen Möglichkeiten zu nutzen, die ihm bleiben. Gelingt es Washington, Damaskus in seine Einflusssphäre zu ziehen, würde dies auch ein russisches Wiedererstarken im Nahen Osten erschweren.
Solchen geopolitischen Gedankenspielen scheint sich Trump derweil noch nicht hinzugeben. Syrien sei kein Freund der USA, schrieb der angehende Präsident auf seinem Kurznachrichtendienst Truth Social. «Die Vereinigten Staaten sollten damit nichts zu tun haben. Das ist nicht unser Kampf.»
Thomas Friedman, ein Nahost-Experte der «New York Times», schrieb dazu belustigt: «Achtung, Herr Trump: Syrien ist der Grundpfeiler des ganzen Nahen Ostens.» Ein Abseitsstehen der USA sei keine Option: «Wir müssen unsere Interessen definieren und sie verfolgen, denn alle anderen tun das gerade auch.»
Trump kann den Westen stärken, wenn er denn will
In seiner ersten Amtszeit führte Trump den Feldzug gegen das IS-Kalifat unter Mithilfe der SDF erfolgreich zu Ende. Dann beging er einen Verrat an seinen kurdischen Verbündeten. Trump liess sich von Erdogan zu einem Abzug aus Syrien überreden und ermöglichte so die türkischen Offensiven im Grenzgebiet. Immerhin konnten ihn seine Berater aber davon überzeugen, zumindest einen Teil der Truppen im Land zu belassen, um die Erdölfelder unter amerikanischer Kontrolle zu behalten.
Die sprunghaften Entscheidungen in Bezug auf Syrien erzürnten Trumps Verteidigungsminister James Mattis damals derart, dass er mit einem wütenden Brief seinen Rücktritt erklärte. Die USA könnten ihre globalen Interessen nur verteidigen, wenn sie ihre Verbündeten mit Respekt behandelten, schrieb Mattis.
Auch frühere amerikanische Präsidenten klagten über die grosse Bürde, die darin besteht, den Weltpolizisten zu spielen. Aber Trump ging im Wahlkampf sogar so weit, die «inneren Feinde» als die grössere Bedrohung für die USA zu bezeichnen als die autoritären Regime in Russland, China oder Nahost. Nun aber bietet sich ausgerechnet ihm die Möglichkeit, die russische und die iranische Schwäche auszunutzen, um die liberale Weltordnung im Nahen Osten und in Osteuropa zu stärken.

