Montag, November 25

Die USA seien Ursache und Motor des Ukraine-Konflikts, sagen die sehr linken und die sehr rechten Trolle Putins. Falsch. Egal, unter welchem Präsidenten: Amerika weiss mit der Ukraine nicht umzugehen.

Am 1. August 1991 kam George Bush nach Kiew und riet den Ukrainern in seiner unüberbietbar paternalistischen Art dringend davon ab, «Unabhängigkeit mit Freiheit zu verwechseln» und einen eigenen Staat zu gründen. Niemals würden die Amerikaner denen beistehen, die «suizidalen Nationalismus» auf der Basis ethnischen Hasses beförderten, sagte Bush. Die moskautreuen Kommunisten konnten ihr Glück kaum fassen, die demokratischen Nationalisten waren fassungslos.

Sie konnten sich schnell trösten. Schon drei Wochen später kam der Putsch gegen Gorbatschow in Moskau, und Ende Jahr war die Sowjetunion Geschichte. Im Dezember stimmten die Ukrainer klar für die Unabhängigkeit, auch im Osten und im Süden des Landes mit seinem starken russischen Bevölkerungsanteil. George Bush blieb nichts anderes übrig, als gute Miene zum nicht sehr bösen Spiel zu machen und sich etwas zu zieren: Die USA anerkannten die Ukraine erst an Weihnachten, als die UdSSR ihr 69-jähriges Leben endgültig aushauchte.

Die Rede Bushs ist als «Chicken Kiev Speech» in die Geschichte eingegangen, als eine politische Verirrung historischen Ranges. Und doch prägt sie das Verhältnis zwischen den USA und der Ukraine bis heute. Denn in einem sind die Regierungen in Washington, egal ob Demokratische oder Republikanische, Putin stets treu gefolgt: Die Ukraine sollte es nicht in die Nato schaffen.

Die Ausnahme war George W. Bush, Sohn des schlecht beratenen Ratgebers von 1991. Am Bukarester Nato-Gipfel 2008 setzte er sich ehrlich für den Beitritt der Ukraine und Georgiens ein. Angela Merkel und Nicolas Sarkozy blockierten, aus Rücksichtnahme auf Russland und mit Blick auf den Umstand, dass damals noch der Grossteil der ukrainischen Bevölkerung den Nato-Beitritt ablehnte. Kiew wurde mit «Zusagen» vertröstet.

Zusicherungen statt Garantien

Ukrainer und Amerikaner mögen sich. Im 19. und 20. Jahrhundert wanderten Ukrainer in Massen in die USA aus, rund 1,5 Millionen Amerikaner sind ukrainischer Abstammung. Sie verehren die Patrioten im Mutterland und verstehen nicht, warum ihr Freiheitskampf so wenig internationale Solidarität auslöst.

Vor allem Europas Linke hat Mühe mit osteuropäischem Aufbäumen gegen Autokraten, seit je. Zu viel Katholizismus, zu viel Antikommunismus, zu viel Tradition! Helmut Schmidt, ein Sozialdemokrat, war genervt von der polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc. Sie sabotierte seine ambitionierte Ostpolitik. Die Amerikaner hingegen waren kolonisiert, hatten gegen Fremdherrschaft gekämpft und die Unabhängigkeit errungen – konnte man da nicht etwas mehr intuitiven Goodwill für die ukrainische Emanzipation erwarten?

Nicht wirklich. Clinton, der erste Präsident nach Bush Vater, hatte es noch leicht. Nicht um Imperialismus ging es in den Anfangsjahren seiner Amtszeit, sondern um die Aufteilung des Sowjetimperiums. Clinton traf Leonid Krawtschuk und Leonid Kutschma, aber so viel zu lachen wie mit Boris Jelzin gab es mit den drögen ukrainischen Kollegen nie. Im Februar 1994 wurde die Ukraine Mitglied im Partnerschaft-für-den-Frieden-Programm, ein paar Monate früher als Russland, das erst im Juni 1994 eintrat und dann in aller Ruhe 1999 erst einmal Tschetschenien überfallen konnte. Clinton reagierte kaum. Ihm waren gute Beziehungen zu Russland wichtiger.

Im Budapester Memorandum von Ende 1994 übergab die Ukraine ihre Atomwaffen an Russland, das im Gegenzug die territoriale Integrität des Nachbarn zu respektieren versprach. Für diese Konzession hätten die Ukrainer von Clinton gerne Garantien gehabt. Sie bekamen sie nicht, stattdessen gab es «Zusicherungen», «assurances». Garantien hätten Washington im Ernstfall zu militärischem Vorgehen verpflichtet. So weit wollte Clinton nicht gehen. Heute ist das Memorandum ein Fetzen Papier, das die USA kaum je zum Handeln bewegt hatte.

Bush zögert, Obama blockiert

George W. Bush wurde 2001 Präsident und blickte erst einmal in Putins Augen. Was er da sah, war eine «Seele», die ihm offenbar so gut gefiel, dass er ein Jahr später in Sankt Petersburg sagte, «Wladimir» sei ein guter Freund. 2002 trat die Ukraine dem Aktionsplan zur Nato-Mitgliedschaft bei. Aber das war politisches Placebo, Hinhaltetaktik mit dem Ziel, etwas zu «tun», um Kiew zu vertrösten und Moskau zu besänftigen.

Der Nato-Beitritt der baltischen Staaten 2004 löste dann erstaunlicherweise bei keinem Akteur Unwohlsein aus, nicht einmal bei Putin: «Hinsichtlich der Nato-Erweiterung haben wir keine Sorgen.» Die Nichtslawen liess der Mann im Kreml also gehen. Man hätte denken können, alles sei gut.

Als Moskaus Truppen im August 2008 über Georgien herfielen, war es vorbei mit dem Theaterlächeln. Die Ukrainer waren geschockt, mühelos konnten sie sich ein derartiges Szenario für ihr Land vorstellen. Bush fand ein paar starke Worte, aber auf Sanktionen gegen Moskau verzichtete er. Es schien, als wolle er so spät in seiner zweiten Amtszeit das Dossier seinem Nachfolger überlassen.

Wo George W. Bush noch zögerlich war, blockierte Barack Obama total. An ihm wäre es gewesen, Putin in die Schranken zu weisen: Er tat nichts dergleichen. Im Gegenteil. Obama übersah die georgische Tragödie, verdrängte die ukrainischen Bedenken und drückte stattdessen auf den Knopf der «Reset Policy», eines Programms mit dem Ziel, die Beziehungen zu Russland neu zu beleben. Washington und Moskau unterzeichneten ein neues Start-Abkommen, sie pushten die Nuklearproliferation und sprachen wieder über den gemeinsamen Kampf gegen Terror.

Sanktionen gegen Russland

Die Ukrainer fanden das alles umso niederschmetternder, als Obama 2008 im Wahlkampf noch gesagt hatte, er halte es für möglich, Georgien und die Ukraine noch in seiner Amtszeit der Nato beitreten zu lassen: Rhetorische Kaprizen, die sich vor allem im Licht von Obamas Bemerkung aus dem Jahr 2012, Russland sei eine «Regionalmacht», die einige Nachbarn «aus Schwäche» bedrohe, seltsam ausnehmen.

Obama erzürnte Putin vermutlich mehr als Helmut Schmidt einst das Politbüro in Moskau, als er befand, die Sowjetunion sei so etwas wie «Obervolta mit Atomraketen» (Obervolta ist heute Burkina Faso). Doch warum sich von einer schwachen Regionalmacht die Politik diktieren lassen?

Als sich Putin 2014 die Krim einverleibte, gab es keine Ausreden mehr. Eiligst wurde die Reset-Policy entsorgt, und zum ersten Mal erliessen die USA ernstzunehmende Sanktionen gegen Russland. Die Bitten Kiews, die USA möchten doch endlich brauchbare Waffen liefern, stiessen allerdings noch immer auf taube Ohren. Obama bewilligte «nichtletale» Hilfe im Umfang von 600 Millionen Dollar, darunter Übungsfahrzeuge, kugelsichere Westen und Nachtsichtgeräte – ein Schritt, an dem sich Olaf Scholz einen Monat vor Kriegsausbruch ein Beispiel nahm, als er der Ukraine 2000 Helme versprach (was Putin provokativ und destabilisierend fand).

Mit den Revolutionären des Maidan sympathisierte Obama. Ungebührlich unterstützt hat er sie nicht, die Behauptung, die USA hätten den Umsturz «gemacht», ist infantil. Waffen lieferte er aber immer noch nicht, er misstraute der neuen, schmerzhaft unvollkommenen, aber dennoch demokratischen Ukraine: Für ihn war sie vor allem korrupt. Nicht einmal der Abschuss des Malaysian-Airlines-Flugs MH17 im Juli 2014 half dem Präsidenten auf die Beine. Er sah diesen mörderischen Akt primär als Beleg dafür, wie gefährlich es ist, Waffen in Kriegszonen zu liefern. In Kiew machte man die Faust im Sack.

Auf eine Kehrtwende hoffen

Die ersten Waffen der USA kamen ausgerechnet unter Donald Trump, im Amt ab 2017. Im April 2018 trafen in Kiew «Javelins» ein, Antipanzerlenkwaffen, die ihr Ziel selbständig finden. So lange hatte es also gedauert, bis die USA ihre fast schon devote Rücksichtnahme auf die sensiblen Gemüter im Kreml aufgaben.

Der Mann, der der Ukraine bisher mit grossem Abstand am meisten geholfen hat, ist Joe Biden. Der Demokrat ist wortkarg, aber prinzipienstark und hat dafür gesorgt, dass Kiew bisher rund 60 Milliarden Dollar an militärischer Hilfe zugeflossen ist – nicht genug für ukrainisches Empfinden, aber auch keine Kleinigkeit. Biden scheint Selenski zu mögen und versteht, dass in der Ukraine nicht nur ein Land, sondern der Westen samt seiner ideellen Basis angegriffen wird.

Die meisten Ukrainer hoffen auf einen Sieg Harris’ bei der Wahl im November. Aber enthusiastisch sind sie nicht. Vermutlich gäbe es mehr vom Gehabten, womöglich in kleineren Portionen, genug zum Ausharren, zu wenig zum Siegen. Trump hatte nie Verständnis oder gar Sympathie für die Ukraine. Er will gute Beziehungen zu Putin, den er als «starken Führer» bewundert. Immer wieder spielt er die russische Bedrohung herunter. Und er hat oft davon gesprochen, die Annexion der Krim «unter bestimmten Bedingungen» anzuerkennen.

In Kiew befürchtet man deshalb das Schlimmste. Gleichzeitig ist man klug genug, auch Trump zu umwerben. Harris ist zuverlässig, aber halbherzig, sie hat den Pazifik im Blick, nicht Osteuropa. Trump hingegen ist ein Mann drastischer Massnahmen.

Das Szenario der Hoffnung – oder ist es Verzweiflung? – in Kiew sieht so aus: Falls Trump Präsident wird und die Ukrainer ihm klarmachen, dass sie einen Kapitulationsfrieden nicht akzeptieren, könnte er eine Kehrtwende vollziehen und die Ukraine massiv aufrüsten. Dies nicht zuletzt, weil er für wirtschaftliche Argumente immer ein offenes Ohr hat. Die Ukraine ist überreich an Bodenschätzen. Der Gedanke, Kiew könnte den USA nach dem Krieg privilegierten Zugang zu ihnen verschaffen, ist nicht abwegig.

Der grosse Fehler Amerikas war es, über Jahrzehnte hinweg von einem möglichen Beitritt Kiews zur Nato zu sprechen – und nichts Konkretes dafür zu tun. Dennoch bleiben die USA der wichtigste strategische Partner Kiews. Von einer Beerdigung der transatlantischen Bindung mögen Europas Russlandfreunde träumen, für die Ukraine ist dies eine Horrorvision. Amerika könnte mehr tun für die Ukraine. Aber ohne die Hilfe Amerikas ist das Land verloren.

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