Ein Gespräch mit dem Politologen und Autor von «Das Ende der Geschichte» über die USA, China und die Zukunft der Demokratie.
Er ist wohl der bekannteste Politikwissenschafter der Welt und mit 72 Jahren nach wie vor ein vehementer Verteidiger der liberalen Demokratie. Die NZZ traf Francis Fukuyama in der Lobby seines Hotels in Zürich, wo er sich für einen Auftritt an einem Literaturfestival aufhält.
Herr Fukuyama, 1989 schrieben Sie Ihren berühmten Essay «Das Ende der Geschichte». Spätestens seit der russischen Invasion in die Ukraine haben viele die Rückkehr der Geschichte ausgerufen. Ist sie zurück?
In einem naheliegenden Sinne, ja. 1989 befand man sich mitten in einer langen Phase einer weltweiten Demokratisierung, die ihren Höhepunkt mit dem Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion erreichte. Jetzt hat sich diese Entwicklung umgekehrt. Insofern sind wir zurück in einer Welt der Geopolitik und Macht.
In Ihrem Essay argumentierten Sie, dass die Menschheit mit der liberalen Demokratie bei ihrer höchsten Regierungsform angelangt sei. Putin oder Xi Jinping sehen das wohl anders.
Ob es tatsächlich eine Regierungsform gibt, die für die Bürger besser ist, ist eine normative Debatte. Ich sehe weiterhin keine Alternative. Ich glaube auch nicht, dass irgendjemand die russische Regierungsform als ideale Form der politischen Organisation ansieht. Es ist eine Diktatur, die Bürgerrechte verweigert und blutige, sinnlose Kriege führt. Eine plausiblere Alternative wäre China, ein Land, dem es gut gelungen ist, hochtechnologisches Wirtschaftswachstum zu fördern. Doch selbst im Falle von China glaube ich, dass es langfristig Schwächen geben wird, da das Land die Entscheidungsfindung auf eine Person konzentriert. Zudem glaube ich, dass viele Chinesen lieber in einer Gesellschaft mit mehr Freiheit leben würden.
Dennoch hat sich etwas geändert in den letzten Jahren. Es gibt mit den Brics-Staaten eine Art illiberalen Block, der wirtschaftlich sogar grösser ist als der Westen.
Es gibt diesen Block. Doch ich glaube nicht, dass er von irgendeiner übergreifenden Idee angetrieben wird, ausser von einer Abneigung gegen die Macht des Westens. Indien etwa ist trotz allem nach wie vor eine Demokratie. Brasilien wiederum ist sogar eine relativ gesunde Demokratie, die einfach Gründe hat, die Vereinigten Staaten nicht zu mögen. Der globale Süden löst sich in viele verschiedene Arten von politischen Systemen auf und bietet keine alternative Form, wie man die Gesellschaft organisieren soll. Ich glaube, wenn man nach einer ernsthafteren Kritik an meiner These sucht, dann hat diese mit den Vereinigten Staaten zu tun.
Sie sehen die grösste Gefahr für die liberale Demokratie in den USA?
Trump ist, wie ich glaube, ein wirklich autoritärer Präsident, der tatsächlich gerade dabei ist, die gesamte amerikanische Verfassungsordnung zu demontieren.
Sie sind kein Fan von Trump. Einige bekannte Intellektuelle haben bereits das Land verlassen. Haben Sie auch vor, zu emigrieren?
Nein.
Sie gehen davon aus, dass Trump einfach demokratisch abgewählt werden wird?
Ich wäre sehr überrascht, wenn die Demokraten bei den Wahlen im nächsten Jahr nicht zumindest das Repräsentantenhaus zurückerobern würden. Einige seiner Massnahmen, insbesondere die Zölle, werden sich sehr negativ auf die Wirtschaft auswirken. Das werden die durchschnittlichen Amerikaner zu spüren bekommen. Zudem hat Trump gerade dieses absurde Haushaltsgesetz verabschiedet, das etwa 170 Milliarden Dollar für die Schaffung einer neuen nationalen Polizei zur Deportation von Menschen vorsieht. Er ist also gerade dabei, einen Polizeistaat aufzubauen. Ich denke nicht, dass das populär sein wird. Die Leute wollen die Bewachung der südlichen Grenze. Sie wollen keinen Polizeistaat.
Weshalb ist die liberale Demokratie derart unter Druck geraten, nicht nur in den USA?
Den liberalen Gesellschaften fehlt eine mächtige, gemeinsame Quelle der Identität, die etwa auf Religion, ethnischer oder nationaler Zugehörigkeit basiert. Ich glaube nicht, dass eine solche Identität in der modernen Welt überhaupt möglich ist. Die Gesellschaften sind dafür viel zu pluralistisch. Nehmen Sie ein Land wie Indien: Premierminister Modi versucht zwar, die nationale Identität Indiens auf dem Hinduismus aufzubauen, aber das lässt eine Viertelmilliarde Menschen, die keine Hindus sind, aussen vor. Erfolgreiche liberale Gesellschaften sind solche, die eine aktive Zivilgesellschaft haben, in der sich Menschen auf der Grundlage von Religion oder einer anderen gemeinsamen Leidenschaft zusammenschliessen. Die Einschränkung besteht darin, dass sie diese Leidenschaft anderen nicht aufzwingen. Eine liberale Gesellschaft erfordert Toleranz für unterschiedliche Ansichten über das gute Leben.
Weshalb kriegen wir das in der westlichen Welt immer weniger hin?
Da gibt es verschiedene Faktoren. Einer ist die technologische Entwicklung. Der Aufstieg des Internets hat in vielerlei Hinsicht eine Art gemeinsame Basis für einfaches empirisches Wissen untergraben. So kann Donald Trump zum Beispiel einfach behaupten, dass ihm die Wahl 2020 gestohlen worden sei, und dank dem Internet kann er vielleicht 30 bis 40 Prozent der amerikanischen Bevölkerung davon überzeugen. Ich glaube nicht, dass das vor 20, 30 Jahren möglich gewesen wäre. Damals hatte die Elite eine grössere Kontrolle darüber, was die Menschen als Fakten verstehen. Hinzu kommen einige Fehlinterpretationen des Liberalismus, die einen Backlash hervorgerufen haben.
Was zum Beispiel?
Auf der rechten Seite der sogenannte Neoliberalismus, eine Art extreme Anwendung der Marktwirtschaft, die die Ungleichheit in den Ländern vergrösserte. Auf der anderen Seite ist es die Identitätspolitik, bei der das liberale Prinzip der gleichen Würde für alle aufgegeben wird, stattdessen teilt man die Menschen nach Ethnie oder Geschlecht in Gruppen auf. Diese antiliberale Idee hat beispielsweise eine Gegenreaktion von weissen Menschen in den Vereinigten Staaten hervorgerufen.
Liberale Gesellschaften und liberale Demokratien waren schon immer eng mit liberalen Märkten verbunden. Doch die Hoffnung auf «Wandel durch Handel» ging nicht auf. Weshalb?
Zunächst einmal führte die Art der Liberalisierung, die in den 1990er und 2000er Jahren betrieben wurde, zu einem grossen Mass an Ungleichheit. Nachdem China Anfang der 2000er Jahre der WTO beigetreten war, wurden etwa zwei bis drei Millionen amerikanische Arbeiter arbeitslos. Global gesehen ist die Wirtschaft also gewachsen, aber die amerikanische Arbeiterklasse hat sehr gelitten. Zudem war die Liberalisierung der Finanzmärkte ein grosser Fehler. Das, was der amerikanischen Arbeiterklasse widerfahren ist, hat dann direkt zum Backlash bei der Wahl von Trump im Jahr 2016 geführt.
Was ist wichtiger bei diesem Backlash: der Verlust der gemeinsamen Identität oder die wirtschaftliche Ungleichheit?
Das ist etwas, worüber wir seit vielen Jahren debattieren. Doch beides ist miteinander verbunden. Wenn man seinen Job verliert, verliert man auch viel von seiner Würde. Wenn Sie ein Bergarbeiter in West Virginia sind, dessen Vater und Grossvater Bergleute waren und gut verdienten, und Sie plötzlich keine Arbeit mehr haben, dann bedeutet das nicht nur wirtschaftliche Entbehrung, sondern auch einen Verlust an sozialem Status. Und das wiederum hat zu einer Menge sozialer Dysfunktion geführt. So ist zum Beispiel der Drogenkonsum in dieser Bevölkerungsgruppe stark angestiegen. Und es gibt noch ein anderes grosses Problem, das wir erst jetzt langsam wahrnehmen.
Welches?
Der Geschlechtergraben. Die Veränderungen, die als Folge des wirtschaftlichen Wandels eingetreten sind, haben vor allem der Position der jungen Männer geschadet. Mein Buch, das wahrscheinlich am wenigsten gelesen wurde, habe ich 1999 unter dem Titel «The Great Disruption» veröffentlicht. Das Hauptargument war, dass der Übergang von der Industrie- zur Informationswirtschaft grosse Auswirkungen auf die Arbeitskräfte haben wird, insbesondere auf die Ermächtigung von Hunderten Millionen Frauen, die in den Industrieländern seit den späten 1960er Jahren in den Arbeitsmarkt eingetreten sind. Vor allem auf den unteren Bildungsebenen schneiden die Frauen deutlich besser ab als die Männer. Viele junge Männer sehen keine Zukunft für sich, und das hat Konsequenzen. Rechte Kandidaten reagieren eher auf die Ressentiments junger Männer, die es zunehmend schwer haben, Anerkennung und Respekt zu finden.
Was kann man dagegen tun?
Das ist die grosse Frage. Dieser Geschlechterwandel wird jede Gesellschaft treffen. Auch in China findet er gerade statt. Eines der grossen Probleme Chinas ist die Tatsache, dass es jedes Jahr zig Millionen Hochschulabsolventen hervorbringt und die Arbeitslosenquote unter jungen Hochschulabsolventen bei 20 Prozent liegt. Die chinesische Regierung hat sogar aufgehört, die Statistiken zu veröffentlichen, weil sie so schlecht sind. Es ist also nicht so, dass autoritäre Regierungen eine Antwort auf diese Fragen haben. Nun stehen wir erneut vor einem gewaltigen Wandel, der durch künstliche Intelligenz ausgelöst wird. Wir wissen nicht, wie wir uns an die Veränderungen gesellschaftlich, politisch und auf dem Arbeitsmarkt anpassen werden.
Sie haben «Das Ende der Geschichte» in einer Zeit der Hoffnung geschrieben, in einem Moment des Aufbruchs. Heute sind die Menschen viel pessimistischer. Kann der Liberalismus ohne Optimismus überleben?
Das werden wir sehen. Eines ist aber klar: Der Liberalismus ist keine Maschine, die von allein weiterläuft. Wenn die Menschen nicht an ihn glauben und nicht für ihn kämpfen, dann wird er nicht überleben. Aber ich glaube, dass es in der Welt eine Menge solcher Kämpfe gibt. Sehen Sie sich nur die Ukraine an. Das Engagement der Ukrainer für den Liberalismus ist wirklich aussergewöhnlich. Sie haben unglaublich viel Leid auf sich genommen, um ihre Unabhängigkeit und ihre Freiheiten zu verteidigen.
Sie schrieben damals auch, dass Sie eine starke Sehnsucht nach der Zeit verspürten, als Geschichte noch existierte. Würden Sie das erneut so formulieren?
Ich glaube, jeder verspürt eine solche Sehnsucht. Nach dem 7. Oktober wurde jeder amerikanische Campus von propalästinensischen Demonstranten überrannt. Warum genau bei diesem Thema? Das liegt daran, dass sie in ihrer eigenen Gesellschaft keine Probleme der sozialen Gerechtigkeit haben, mit denen sie sich auseinandersetzen können, doch sie wollen im Namen von jemandem kämpfen. Es geht also darum, eine Art Leere zu füllen, die entsteht, wenn man eine sehr erfolgreiche, sichere, demokratische Gesellschaft hat. Die Menschen wollen immer noch kämpfen, und deshalb werden sie für jegliche Sache kämpfen, die sich ihnen anbietet.
Heisst das, die liberale Demokratie wird immer instabil bleiben?
Das ist es, was ich in meinem ersten Buch als Argument vorbrachte. Die Leute lesen die letzten fünf Kapitel von «Das Ende der Geschichte und der letzte Mensch» nie. Dort steht an einer Stelle: Wenn die Menschen in einer erfolgreichen Demokratie leben, die friedlich und stabil ist, und sie keine Möglichkeit haben, für die Demokratie zu kämpfen, dann werden sie irgendwann gegen die Demokratie kämpfen. Und ich glaube, das sehen wir gerade.
Francis Fukuyama liest am Freitag, 11. 7., am Literaturfestival in Zürich aus seinem neuen Buch «Der Liberalismus und seine Feinde».